Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Elfter Gesang.
Angestemmt, arbeitet' er stark mit Händen und Füßen, 595
Ihn von der Au aufwälzend zum Berge. Doch glaubt' er ihn jezo
Auf den Gipfel zu drehn: da mit Einmal stürzte die Last um;
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.
Und von vorn arbeitet' er, angestemmt, daß der Angstschweiß
Seinen Gliedern entfloß, und Staub sein Antliz umwölkte. 600

Und nach diesem erblickt' ich die hohe Kraft Härakläs,
Seine Gestalt; denn er selber feirt mit den ewigen Göttern
Himmlische Wonnegelag', und umarmt die blühende Häbä,
Zeus des gewaltigen Tochter und Häräs mit goldenen Solen.
Ringsum schrie, wie Vögelgeschrei, das Geschrei der gescheuchten 605
Flatternden Geister um ihn; er stand der graulichen Nacht gleich,
Hielt den entblößten Bogen gespannt, und den Pfeil auf der Senne,
Schauete drohend umher, und schien beständig zu schnellen.
Seine Brust umgürtet' ein fürchterlich Wehrgehenke,
Wo, getrieben aus Gold, die Wunderbildungen stralten: 610
Bären, und Eber voll Wut, und grimmig funkelnde Löwen,
Treffen und blutige Schlachten und Niederlagen und Morde.
Immer feire der Künstler, auf immer von seiner Arbeit,
Der ein solches Gehenke mit hohem Geiste gebildet!
Dieser erkannte mich gleich, sobald er mit Augen mich sahe, 615
Wandte sich seufzend zu mir, und sprach die geflügelten Worte:

Edler Laertiad', erfindungsreicher Odüßeus,
Armer, ruht auch auf dir ein trauervolles Verhängniß,
Wie ich weiland ertrug, da mir die Sonne noch stralte?
Zeus des Kroniden Sohn war ich, und duldete dennoch 620
Unaussprechliches Elend; dem weit geringeren Manne
Dient' ich, und dieser gebot mir die fürchterlichsten Gefahren.

Elfter Geſang.
Angeſtemmt, arbeitet' er ſtark mit Haͤnden und Fuͤßen, 595
Ihn von der Au aufwaͤlzend zum Berge. Doch glaubt' er ihn jezo
Auf den Gipfel zu drehn: da mit Einmal ſtuͤrzte die Laſt um;
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tuͤckiſche Marmor.
Und von vorn arbeitet' er, angeſtemmt, daß der Angſtſchweiß
Seinen Gliedern entfloß, und Staub ſein Antliz umwoͤlkte. 600

Und nach dieſem erblickt' ich die hohe Kraft Haͤraklaͤs,
Seine Geſtalt; denn er ſelber feirt mit den ewigen Goͤttern
Himmliſche Wonnegelag', und umarmt die bluͤhende Haͤbaͤ,
Zeus des gewaltigen Tochter und Haͤraͤs mit goldenen Solen.
Ringsum ſchrie, wie Voͤgelgeſchrei, das Geſchrei der geſcheuchten 605
Flatternden Geiſter um ihn; er ſtand der graulichen Nacht gleich,
Hielt den entbloͤßten Bogen geſpannt, und den Pfeil auf der Senne,
Schauete drohend umher, und ſchien beſtaͤndig zu ſchnellen.
Seine Bruſt umguͤrtet' ein fuͤrchterlich Wehrgehenke,
Wo, getrieben aus Gold, die Wunderbildungen ſtralten: 610
Baͤren, und Eber voll Wut, und grimmig funkelnde Loͤwen,
Treffen und blutige Schlachten und Niederlagen und Morde.
Immer feire der Kuͤnſtler, auf immer von ſeiner Arbeit,
Der ein ſolches Gehenke mit hohem Geiſte gebildet!
Dieſer erkannte mich gleich, ſobald er mit Augen mich ſahe, 615
Wandte ſich ſeufzend zu mir, und ſprach die gefluͤgelten Worte:

Edler Laertiad', erfindungsreicher Oduͤßeus,
Armer, ruht auch auf dir ein trauervolles Verhaͤngniß,
Wie ich weiland ertrug, da mir die Sonne noch ſtralte?
Zeus des Kroniden Sohn war ich, und duldete dennoch 620
Unausſprechliches Elend; dem weit geringeren Manne
Dient' ich, und dieſer gebot mir die fuͤrchterlichſten Gefahren.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0233" n="227"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Elfter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Ange&#x017F;temmt, arbeitet' er &#x017F;tark mit Ha&#x0364;nden und Fu&#x0364;ßen, <note place="right">595</note><lb/>
Ihn von der Au aufwa&#x0364;lzend zum Berge. Doch glaubt' er ihn jezo<lb/>
Auf den Gipfel zu drehn: da mit Einmal &#x017F;tu&#x0364;rzte die La&#x017F;t um;<lb/>
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tu&#x0364;cki&#x017F;che Marmor.<lb/>
Und von vorn arbeitet' er, ange&#x017F;temmt, daß der Ang&#x017F;t&#x017F;chweiß<lb/>
Seinen Gliedern entfloß, und Staub &#x017F;ein Antliz umwo&#x0364;lkte. <note place="right">600</note></p><lb/>
        <p>Und nach die&#x017F;em erblickt' ich die hohe Kraft Ha&#x0364;rakla&#x0364;s,<lb/>
Seine Ge&#x017F;talt; denn er &#x017F;elber feirt mit den ewigen Go&#x0364;ttern<lb/>
Himmli&#x017F;che Wonnegelag', und umarmt die blu&#x0364;hende Ha&#x0364;ba&#x0364;,<lb/>
Zeus des gewaltigen Tochter und Ha&#x0364;ra&#x0364;s mit goldenen Solen.<lb/>
Ringsum &#x017F;chrie, wie Vo&#x0364;gelge&#x017F;chrei, das Ge&#x017F;chrei der ge&#x017F;cheuchten <note place="right">605</note><lb/>
Flatternden Gei&#x017F;ter um ihn; er &#x017F;tand der graulichen Nacht gleich,<lb/>
Hielt den entblo&#x0364;ßten Bogen ge&#x017F;pannt, und den Pfeil auf der Senne,<lb/>
Schauete drohend umher, und &#x017F;chien be&#x017F;ta&#x0364;ndig zu &#x017F;chnellen.<lb/>
Seine Bru&#x017F;t umgu&#x0364;rtet' ein fu&#x0364;rchterlich Wehrgehenke,<lb/>
Wo, getrieben aus Gold, die Wunderbildungen &#x017F;tralten: <note place="right">610</note><lb/>
Ba&#x0364;ren, und Eber voll Wut, und grimmig funkelnde Lo&#x0364;wen,<lb/>
Treffen und blutige Schlachten und Niederlagen und Morde.<lb/>
Immer feire der Ku&#x0364;n&#x017F;tler, auf immer von &#x017F;einer Arbeit,<lb/>
Der ein &#x017F;olches Gehenke mit hohem Gei&#x017F;te gebildet!<lb/>
Die&#x017F;er erkannte mich gleich, &#x017F;obald er mit Augen mich &#x017F;ahe, <note place="right">615</note><lb/>
Wandte &#x017F;ich &#x017F;eufzend zu mir, und &#x017F;prach die geflu&#x0364;gelten Worte:</p><lb/>
        <p>Edler Laertiad', erfindungsreicher Odu&#x0364;ßeus,<lb/>
Armer, ruht auch auf dir ein trauervolles Verha&#x0364;ngniß,<lb/>
Wie ich weiland ertrug, da mir die Sonne noch &#x017F;tralte?<lb/>
Zeus des Kroniden Sohn war ich, und duldete dennoch <note place="right">620</note><lb/>
Unaus&#x017F;prechliches Elend; dem weit geringeren Manne<lb/>
Dient' ich, und die&#x017F;er gebot mir die fu&#x0364;rchterlich&#x017F;ten Gefahren.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[227/0233] Elfter Geſang. Angeſtemmt, arbeitet' er ſtark mit Haͤnden und Fuͤßen, Ihn von der Au aufwaͤlzend zum Berge. Doch glaubt' er ihn jezo Auf den Gipfel zu drehn: da mit Einmal ſtuͤrzte die Laſt um; Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tuͤckiſche Marmor. Und von vorn arbeitet' er, angeſtemmt, daß der Angſtſchweiß Seinen Gliedern entfloß, und Staub ſein Antliz umwoͤlkte. 595 600 Und nach dieſem erblickt' ich die hohe Kraft Haͤraklaͤs, Seine Geſtalt; denn er ſelber feirt mit den ewigen Goͤttern Himmliſche Wonnegelag', und umarmt die bluͤhende Haͤbaͤ, Zeus des gewaltigen Tochter und Haͤraͤs mit goldenen Solen. Ringsum ſchrie, wie Voͤgelgeſchrei, das Geſchrei der geſcheuchten Flatternden Geiſter um ihn; er ſtand der graulichen Nacht gleich, Hielt den entbloͤßten Bogen geſpannt, und den Pfeil auf der Senne, Schauete drohend umher, und ſchien beſtaͤndig zu ſchnellen. Seine Bruſt umguͤrtet' ein fuͤrchterlich Wehrgehenke, Wo, getrieben aus Gold, die Wunderbildungen ſtralten: Baͤren, und Eber voll Wut, und grimmig funkelnde Loͤwen, Treffen und blutige Schlachten und Niederlagen und Morde. Immer feire der Kuͤnſtler, auf immer von ſeiner Arbeit, Der ein ſolches Gehenke mit hohem Geiſte gebildet! Dieſer erkannte mich gleich, ſobald er mit Augen mich ſahe, Wandte ſich ſeufzend zu mir, und ſprach die gefluͤgelten Worte: 605 610 615 Edler Laertiad', erfindungsreicher Oduͤßeus, Armer, ruht auch auf dir ein trauervolles Verhaͤngniß, Wie ich weiland ertrug, da mir die Sonne noch ſtralte? Zeus des Kroniden Sohn war ich, und duldete dennoch Unausſprechliches Elend; dem weit geringeren Manne Dient' ich, und dieſer gebot mir die fuͤrchterlichſten Gefahren. 620

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/233
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/233>, abgerufen am 23.11.2024.