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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Odüßee.
Ehe der Freier Schwarm zum Freudengelage zurückkehrt, 105
Mir zu erzählen, was du von deinem Vater gehört hast!

Und der verständige Jüngling Tälemachos sagte dagegen:
Gerne will ich dir, Mutter, die lautere Wahrheit verkünden.
Siehe wir schifften gen Pülos, zu Nestor, dem Hirten der Völker.
Freundlich empfing mich dieser in seinem hohen Palaste, 110
Und bewirtete mich mit so geschäftiger Liebe,
Als ein Vater den Sohn, der spät aus der Fremde zurückkehrt:
So viel Liebe genoß ich von ihm und den treflichen Söhnen.
Doch von dem leidengeübten Odüßeus hatte der König
Nicht das geringste gehört; ob er todt sei, oder noch lebe. 115
Aber zu Atreus Sohn Menelaos dem lanzenberühmten
Sandt' er mit Roßen mich hin und einem zierlichen Wagen:
Wo ich Argos Helena sah, um welche die Troer
Und Argeier so viel, nach dem Rath der Götter, erduldet.
Und mich fragte sogleich der Rufer im Streit Menelaos, 120
Was mich zu kommen genöthigt zur göttlichen Stadt Lakedaimon.
Und ich erzählte darauf umständlich die ganze Geschichte.
Nun antwortete mir der Held Menelaos, und sagte:

O ihr Götter, ins Lager des übergewaltigen Mannes
Wollten jene sich legen, die feigen verworfenen Menschen! 125
Aber wie wenn in den Dickicht des starken Löwen die Hirschkuh
Ihre saugenden Jungen, die neugeborenen, hinlegt,
Dann auf den Bergen umher und kräuterbewachsenen Thälern
Weide sucht; und jener darauf in sein Lager zurückkehrt,
Und den Zwillingen beiden ein schreckliches Ende bereitet: 130
So wird jenen Odüßeus ein schreckliches Ende bereiten.
Wenn er, o Vater Zeus, Athänä und Föbos Apollon!

Oduͤßee.
Ehe der Freier Schwarm zum Freudengelage zuruͤckkehrt, 105
Mir zu erzaͤhlen, was du von deinem Vater gehoͤrt haſt!

Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen:
Gerne will ich dir, Mutter, die lautere Wahrheit verkuͤnden.
Siehe wir ſchifften gen Puͤlos, zu Neſtor, dem Hirten der Voͤlker.
Freundlich empfing mich dieſer in ſeinem hohen Palaſte, 110
Und bewirtete mich mit ſo geſchaͤftiger Liebe,
Als ein Vater den Sohn, der ſpaͤt aus der Fremde zuruͤckkehrt:
So viel Liebe genoß ich von ihm und den treflichen Soͤhnen.
Doch von dem leidengeuͤbten Oduͤßeus hatte der Koͤnig
Nicht das geringſte gehoͤrt; ob er todt ſei, oder noch lebe. 115
Aber zu Atreus Sohn Menelaos dem lanzenberuͤhmten
Sandt' er mit Roßen mich hin und einem zierlichen Wagen:
Wo ich Argos Helena ſah, um welche die Troer
Und Argeier ſo viel, nach dem Rath der Goͤtter, erduldet.
Und mich fragte ſogleich der Rufer im Streit Menelaos, 120
Was mich zu kommen genoͤthigt zur goͤttlichen Stadt Lakedaimon.
Und ich erzaͤhlte darauf umſtaͤndlich die ganze Geſchichte.
Nun antwortete mir der Held Menelaos, und ſagte:

O ihr Goͤtter, ins Lager des uͤbergewaltigen Mannes
Wollten jene ſich legen, die feigen verworfenen Menſchen! 125
Aber wie wenn in den Dickicht des ſtarken Loͤwen die Hirſchkuh
Ihre ſaugenden Jungen, die neugeborenen, hinlegt,
Dann auf den Bergen umher und kraͤuterbewachſenen Thaͤlern
Weide ſucht; und jener darauf in ſein Lager zuruͤckkehrt,
Und den Zwillingen beiden ein ſchreckliches Ende bereitet: 130
So wird jenen Oduͤßeus ein ſchreckliches Ende bereiten.
Wenn er, o Vater Zeus, Athaͤnaͤ und Foͤbos Apollon!

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[326/0332] Oduͤßee. Ehe der Freier Schwarm zum Freudengelage zuruͤckkehrt, Mir zu erzaͤhlen, was du von deinem Vater gehoͤrt haſt! 105 Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen: Gerne will ich dir, Mutter, die lautere Wahrheit verkuͤnden. Siehe wir ſchifften gen Puͤlos, zu Neſtor, dem Hirten der Voͤlker. Freundlich empfing mich dieſer in ſeinem hohen Palaſte, Und bewirtete mich mit ſo geſchaͤftiger Liebe, Als ein Vater den Sohn, der ſpaͤt aus der Fremde zuruͤckkehrt: So viel Liebe genoß ich von ihm und den treflichen Soͤhnen. Doch von dem leidengeuͤbten Oduͤßeus hatte der Koͤnig Nicht das geringſte gehoͤrt; ob er todt ſei, oder noch lebe. Aber zu Atreus Sohn Menelaos dem lanzenberuͤhmten Sandt' er mit Roßen mich hin und einem zierlichen Wagen: Wo ich Argos Helena ſah, um welche die Troer Und Argeier ſo viel, nach dem Rath der Goͤtter, erduldet. Und mich fragte ſogleich der Rufer im Streit Menelaos, Was mich zu kommen genoͤthigt zur goͤttlichen Stadt Lakedaimon. Und ich erzaͤhlte darauf umſtaͤndlich die ganze Geſchichte. Nun antwortete mir der Held Menelaos, und ſagte: 110 115 120 O ihr Goͤtter, ins Lager des uͤbergewaltigen Mannes Wollten jene ſich legen, die feigen verworfenen Menſchen! Aber wie wenn in den Dickicht des ſtarken Loͤwen die Hirſchkuh Ihre ſaugenden Jungen, die neugeborenen, hinlegt, Dann auf den Bergen umher und kraͤuterbewachſenen Thaͤlern Weide ſucht; und jener darauf in ſein Lager zuruͤckkehrt, Und den Zwillingen beiden ein ſchreckliches Ende bereitet: So wird jenen Oduͤßeus ein ſchreckliches Ende bereiten. Wenn er, o Vater Zeus, Athaͤnaͤ und Foͤbos Apollon! 125 130

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/332>, abgerufen am 24.11.2024.