Herz einpräge. Ich kann nun wohl sagen, daß ich nun erst fühle, was die Kunst von allem übrigen Treiben und Arbeiten der sterb¬ lichen Menschen unterscheidet; ich bin reiner und heiliger geworden, und darum bin ich nun erst zu den heiligen Altären gelassen. Wie bet' ich jetzt die Mutter Gottes und die erhabenen Apostel in jenen begeisterten Bil¬ dern an, die ich sonst nur mit kaltem Auge und halbgeübtem Pinsel Zug für Zug nach¬ zeichnen wollte: -- jetzt stehn mir die Thrä¬ nen in den Augen, meine Hand zittert, mein innerstes Herz ist bewegt, so daß ich (möcht' ich sagen) fast ohne Bewußtseyn die Farben auf die Leinwand trage, und dennoch geräth es mir so, daß ich hernach damit zufrieden bin. O wenn doch jetzt Raphael noch lebte, daß ich ihn sehn, ihn sprechen, ihm meine Gefühle sagen könnte! Er muß sie gekannt haben, denn ich finde sie, ich finde mein
Herz einpräge. Ich kann nun wohl ſagen, daß ich nun erſt fühle, was die Kunſt von allem übrigen Treiben und Arbeiten der ſterb¬ lichen Menſchen unterſcheidet; ich bin reiner und heiliger geworden, und darum bin ich nun erſt zu den heiligen Altären gelaſſen. Wie bet' ich jetzt die Mutter Gottes und die erhabenen Apoſtel in jenen begeiſterten Bil¬ dern an, die ich ſonſt nur mit kaltem Auge und halbgeübtem Pinſel Zug für Zug nach¬ zeichnen wollte: — jetzt ſtehn mir die Thrä¬ nen in den Augen, meine Hand zittert, mein innerſtes Herz iſt bewegt, ſo daß ich (möcht' ich ſagen) faſt ohne Bewußtſeyn die Farben auf die Leinwand trage, und dennoch geräth es mir ſo, daß ich hernach damit zufrieden bin. O wenn doch jetzt Raphael noch lebte, daß ich ihn ſehn, ihn ſprechen, ihm meine Gefühle ſagen könnte! Er muß ſie gekannt haben, denn ich finde ſie, ich finde mein
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Herz einpräge. Ich kann nun wohl ſagen,
daß ich nun erſt fühle, was die Kunſt von
allem übrigen Treiben und Arbeiten der ſterb¬
lichen Menſchen unterſcheidet; ich bin reiner
und heiliger geworden, und darum bin ich
nun erſt zu den heiligen Altären gelaſſen.
Wie bet' ich jetzt die Mutter Gottes und die
erhabenen Apoſtel in jenen begeiſterten Bil¬
dern an, die ich ſonſt nur mit kaltem Auge
und halbgeübtem Pinſel Zug für Zug nach¬
zeichnen wollte: — jetzt ſtehn mir die Thrä¬
nen in den Augen, meine Hand zittert, mein
innerſtes Herz iſt bewegt, ſo daß ich (möcht'
ich ſagen) faſt ohne Bewußtſeyn die Farben
auf die Leinwand trage, und dennoch geräth
es mir ſo, daß ich hernach damit zufrieden
bin. O wenn doch jetzt Raphael noch lebte,
daß ich ihn ſehn, ihn ſprechen, ihm meine
Gefühle ſagen könnte! Er muß ſie gekannt
haben, denn ich finde ſie, ich finde mein
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Wackenroder, Wilhelm Heinrich; Tieck, Ludwig: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. Berlin, 1797, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackenroder_herzensergiessungen_1797/63>, abgerufen am 24.11.2024.
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