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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Thier an dem andern verübt, ein Wort, das ein Baum an den andern pwa_111.002
richtet: kurz, sie setzt und nimmt überall nur so viel an, und kann pwa_111.003
auch ihrem ganzen Wesen nach nur so viel setzen, als nothdürftig pwa_111.004
erforderlich ist, um den bezweckten Erfahrungssatz einzukleiden; ja pwa_111.005
es kommt ihr, da sie vorzugsweise die Lehre im Auge hat, auf die pwa_111.006
epische Anschaulichkeit oft so wenig an, dass sie nicht weiter darauf pwa_111.007
achtet, ob jene Handlung und jene Worte zu dem Character des Handelnden pwa_111.008
und Redenden stimmen oder nicht, dass es ihr nicht selten pwa_111.009
durchaus gleichgültig ist, ob das Thier ein Fuchs sei oder ein Wolf, pwa_111.010
der Baum ein Oelbaum oder eine Eiche. Anders in der Parabel. Die pwa_111.011
Wirklichkeit, welche die Parabel um der Lehre willen setzt, ist die pwa_111.012
Wirklichkeit der menschlichen oder der göttlichen Geschichte. Hier pwa_111.013
ist die Möglichkeit vorhanden, die Anschauung characteristischer, pwa_111.014
künstlerischer, ausführlicher und mehr episch zu gestalten, und mit pwa_111.015
der Möglichkeit zugleich der Reiz und die Nöthigung. Und so ward pwa_111.016
es das Wesen der Parabel, sich nicht sowohl auf einzelne Situationen pwa_111.017
zu beschränken (obwohl auch das hin und wieder vorkommt) als vielmehr pwa_111.018
eine Begebenheit in einem ausgedehnteren thatsächlichen Verlaufe pwa_111.019
zu erzählen; jedoch immer nur Eine Begebenheit: denn die pwa_111.020
Parabel will auch immer nur Eine Lehre vortragen. Durch diess pwa_111.021
grössere Mass epischer Anschaulichkeit stellt sich die Parabel in künstlerischer pwa_111.022
Hinsicht über die Fabel: bei jener macht die epische Form, pwa_111.023
worein die Lehre gekleidet ist, auch für sich gewisse Ansprüche; bei pwa_111.024
dieser ist sie durchaus untergeordnet. Daraus ergiebt sich ein weiterer pwa_111.025
Unterschied. Man wird immer ein angemessenes Verhältniss zu behaupten pwa_111.026
suchen zwischen der Lehre und der einkleidenden Anschauung: pwa_111.027
deshalb nun zieht man für sittliche Lehren von höherer Bedeutung pwa_111.028
die Form der Parabel vor, weil sie künstlerischer kann behandelt pwa_111.029
werden, während die anspruchslosere und minder künstlerische Form pwa_111.030
der Fabel auch auf den niederen Stufen des Lehrhaften stehen bleibt. pwa_111.031
Diese niedere Stellung aber der Fabel hat sie nicht selten ganz aus pwa_111.032
der Poesie hinaus gezogen: häufig ist es bei ihr gar nicht mehr auf pwa_111.033
Belehrung des sittlichen Gefühles abgesehn worden, sondern nur auf pwa_111.034
Belehrung des Verstandes, indem man sie gebraucht hat, um Klugheitsregeln pwa_111.035
und solche Erfahrungssätze auszusprechen, die lediglich pwa_111.036
zum Verstande in Beziehung stehn. Solche Fabeln darf man kein pwa_111.037
Bedenken tragen gradezu als unpoetisch zu verwerfen.

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Aber es ist an der Zeit, durch einige Bemerkungen über die Geschichte pwa_111.039
der Fabel die theoretische Erörterung noch fester zu begründen.

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Am frühsten hat sich die Fabel und ihre Seitenart die Parabel pwa_111.041
bei den Orientalen entwickelt. Die Juden und die mit ihnen verwandten

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Thier an dem andern verübt, ein Wort, das ein Baum an den andern pwa_111.002
richtet: kurz, sie setzt und nimmt überall nur so viel an, und kann pwa_111.003
auch ihrem ganzen Wesen nach nur so viel setzen, als nothdürftig pwa_111.004
erforderlich ist, um den bezweckten Erfahrungssatz einzukleiden; ja pwa_111.005
es kommt ihr, da sie vorzugsweise die Lehre im Auge hat, auf die pwa_111.006
epische Anschaulichkeit oft so wenig an, dass sie nicht weiter darauf pwa_111.007
achtet, ob jene Handlung und jene Worte zu dem Character des Handelnden pwa_111.008
und Redenden stimmen oder nicht, dass es ihr nicht selten pwa_111.009
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der Baum ein Oelbaum oder eine Eiche. Anders in der Parabel. Die pwa_111.011
Wirklichkeit, welche die Parabel um der Lehre willen setzt, ist die pwa_111.012
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künstlerischer, ausführlicher und mehr episch zu gestalten, und mit pwa_111.015
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es das Wesen der Parabel, sich nicht sowohl auf einzelne Situationen pwa_111.017
zu beschränken (obwohl auch das hin und wieder vorkommt) als vielmehr pwa_111.018
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zu erzählen; jedoch immer nur Eine Begebenheit: denn die pwa_111.020
Parabel will auch immer nur Eine Lehre vortragen. Durch diess pwa_111.021
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worein die Lehre gekleidet ist, auch für sich gewisse Ansprüche; bei pwa_111.024
dieser ist sie durchaus untergeordnet. Daraus ergiebt sich ein weiterer pwa_111.025
Unterschied. Man wird immer ein angemessenes Verhältniss zu behaupten pwa_111.026
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werden, während die anspruchslosere und minder künstlerische Form pwa_111.030
der Fabel auch auf den niederen Stufen des Lehrhaften stehen bleibt. pwa_111.031
Diese niedere Stellung aber der Fabel hat sie nicht selten ganz aus pwa_111.032
der Poesie hinaus gezogen: häufig ist es bei ihr gar nicht mehr auf pwa_111.033
Belehrung des sittlichen Gefühles abgesehn worden, sondern nur auf pwa_111.034
Belehrung des Verstandes, indem man sie gebraucht hat, um Klugheitsregeln pwa_111.035
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zum Verstande in Beziehung stehn. Solche Fabeln darf man kein pwa_111.037
Bedenken tragen gradezu als unpoetisch zu verwerfen.

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Aber es ist an der Zeit, durch einige Bemerkungen über die Geschichte pwa_111.039
der Fabel die theoretische Erörterung noch fester zu begründen.

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Am frühsten hat sich die Fabel und ihre Seitenart die Parabel pwa_111.041
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[111/0129] pwa_111.001 Thier an dem andern verübt, ein Wort, das ein Baum an den andern pwa_111.002 richtet: kurz, sie setzt und nimmt überall nur so viel an, und kann pwa_111.003 auch ihrem ganzen Wesen nach nur so viel setzen, als nothdürftig pwa_111.004 erforderlich ist, um den bezweckten Erfahrungssatz einzukleiden; ja pwa_111.005 es kommt ihr, da sie vorzugsweise die Lehre im Auge hat, auf die pwa_111.006 epische Anschaulichkeit oft so wenig an, dass sie nicht weiter darauf pwa_111.007 achtet, ob jene Handlung und jene Worte zu dem Character des Handelnden pwa_111.008 und Redenden stimmen oder nicht, dass es ihr nicht selten pwa_111.009 durchaus gleichgültig ist, ob das Thier ein Fuchs sei oder ein Wolf, pwa_111.010 der Baum ein Oelbaum oder eine Eiche. Anders in der Parabel. Die pwa_111.011 Wirklichkeit, welche die Parabel um der Lehre willen setzt, ist die pwa_111.012 Wirklichkeit der menschlichen oder der göttlichen Geschichte. Hier pwa_111.013 ist die Möglichkeit vorhanden, die Anschauung characteristischer, pwa_111.014 künstlerischer, ausführlicher und mehr episch zu gestalten, und mit pwa_111.015 der Möglichkeit zugleich der Reiz und die Nöthigung. Und so ward pwa_111.016 es das Wesen der Parabel, sich nicht sowohl auf einzelne Situationen pwa_111.017 zu beschränken (obwohl auch das hin und wieder vorkommt) als vielmehr pwa_111.018 eine Begebenheit in einem ausgedehnteren thatsächlichen Verlaufe pwa_111.019 zu erzählen; jedoch immer nur Eine Begebenheit: denn die pwa_111.020 Parabel will auch immer nur Eine Lehre vortragen. Durch diess pwa_111.021 grössere Mass epischer Anschaulichkeit stellt sich die Parabel in künstlerischer pwa_111.022 Hinsicht über die Fabel: bei jener macht die epische Form, pwa_111.023 worein die Lehre gekleidet ist, auch für sich gewisse Ansprüche; bei pwa_111.024 dieser ist sie durchaus untergeordnet. Daraus ergiebt sich ein weiterer pwa_111.025 Unterschied. Man wird immer ein angemessenes Verhältniss zu behaupten pwa_111.026 suchen zwischen der Lehre und der einkleidenden Anschauung: pwa_111.027 deshalb nun zieht man für sittliche Lehren von höherer Bedeutung pwa_111.028 die Form der Parabel vor, weil sie künstlerischer kann behandelt pwa_111.029 werden, während die anspruchslosere und minder künstlerische Form pwa_111.030 der Fabel auch auf den niederen Stufen des Lehrhaften stehen bleibt. pwa_111.031 Diese niedere Stellung aber der Fabel hat sie nicht selten ganz aus pwa_111.032 der Poesie hinaus gezogen: häufig ist es bei ihr gar nicht mehr auf pwa_111.033 Belehrung des sittlichen Gefühles abgesehn worden, sondern nur auf pwa_111.034 Belehrung des Verstandes, indem man sie gebraucht hat, um Klugheitsregeln pwa_111.035 und solche Erfahrungssätze auszusprechen, die lediglich pwa_111.036 zum Verstande in Beziehung stehn. Solche Fabeln darf man kein pwa_111.037 Bedenken tragen gradezu als unpoetisch zu verwerfen. pwa_111.038 Aber es ist an der Zeit, durch einige Bemerkungen über die Geschichte pwa_111.039 der Fabel die theoretische Erörterung noch fester zu begründen. pwa_111.040 Am frühsten hat sich die Fabel und ihre Seitenart die Parabel pwa_111.041 bei den Orientalen entwickelt. Die Juden und die mit ihnen verwandten

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/129>, abgerufen am 21.11.2024.