Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_113.001 pwa_113.020 pwa_113.001 pwa_113.020 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0131" n="113"/><lb n="pwa_113.001"/> nur an den Verstand, nicht an das sittliche Gefühl des Lesers gerichtet, <lb n="pwa_113.002"/> dass allerdings die poetische Form blosse, rein äusserliche Form ist, <lb n="pwa_113.003"/> unbedingt und ungefordert durch den Inhalt. Noch eine Eigenthümlichkeit <lb n="pwa_113.004"/> haben die äsopischen Fabeln, die für die weitere Entwickelung <lb n="pwa_113.005"/> dieser Dichtungsart von Bedeutung geworden ist. Wie nämlich die <lb n="pwa_113.006"/> epische Einkleidung oft, ja gewöhnlich uncharacteristisch und aufs <lb n="pwa_113.007"/> Ungefähr hin erfunden ist, steht sie gewöhnlich auch in keinem rechten <lb n="pwa_113.008"/> causalen Zusammenhange mit der gemeinten Lehre, und es könnte <lb n="pwa_113.009"/> dieselbe Anschauung eben so gut irgend eine andre Lehre meinen, und <lb n="pwa_113.010"/> dieselbe Lehre eben so gut anders umkleidet sein. Daher ist nun jeder <lb n="pwa_113.011"/> Fabel ihre Nutzanwendung, jedem <foreign xml:lang="grc">μῦθος</foreign> sein <foreign xml:lang="grc">ἐπιμύθιον</foreign> beigefügt, <lb n="pwa_113.012"/> das die Erfahrung oder die Vorschrift enthält, auf welche gezielt war. <lb n="pwa_113.013"/> Billiger Weise darf man fragen: „Wenn doch die Lehre zuletzt didactisch <lb n="pwa_113.014"/> unumwunden soll ausgesprochen werden, wozu vorher die episch umwundene <lb n="pwa_113.015"/> Darstellung?“ Indessen es war einmal so; und so fehlte denn <lb n="pwa_113.016"/> auch den Fabeln, welche die Lateiner fort und fort dem Aesop <lb n="pwa_113.017"/> nachdichteten und nacherfanden, niemals dieser moralische Anhang; <lb n="pwa_113.018"/> er fehlte auch nicht den Fabeln, welche das Mittelalter wieder den <lb n="pwa_113.019"/> Lateinern ablernte und gewöhnlich in poetischer Form abfasste.</p> <p><lb n="pwa_113.020"/> In Deutschland begegnete der äsopischen Fabel ebenso viel <lb n="pwa_113.021"/> Widerstand als Bereitwilligkeit, sie aufzunehmen. Sie stiess da auf <lb n="pwa_113.022"/> ein Volk, das seine grösste Lust an episch belebten Anschauungen <lb n="pwa_113.023"/> hatte, das auch schon seit langen Zeiten eine reiche Fülle von Thiersagen, <lb n="pwa_113.024"/> ja einen eignen um den Fuchs Reinhart gesammelten Kreis <lb n="pwa_113.025"/> von solchen besass: gleichwohl war eben diess Volk auch der Didaxis <lb n="pwa_113.026"/> nicht feind. So ward die äsopische Fabel zwar aufgenommen: aber <lb n="pwa_113.027"/> sie musste sich zweierlei gefallen lassen. Einmal, dass neben ihr die <lb n="pwa_113.028"/> alte Thierepik fortbestand, während unter den Griechen und wo <lb n="pwa_113.029"/> sonst die Lehrfabel sich von selber bildete, sie nur ins Leben trat durch <lb n="pwa_113.030"/> den Tod der alten Thierepik; dass also noch im zwölften Jahrhundert <lb n="pwa_113.031"/> durch Heinrich den Gleissner, einen Fahrenden des Elsasses, das mittelhochdeutsche <lb n="pwa_113.032"/> Epos von Isengrins Noth (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 229. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 407) verfasst <lb n="pwa_113.033"/> wurde, ja noch im vierzehnten das niederländische vom Vos Reinaert. <lb n="pwa_113.034"/> Sodann musste sich auch die äsopische Fabel selbst, so gut es gieng, <lb n="pwa_113.035"/> nationalisieren: sie musste sich der nun gewohnten Weise aller epischen <lb n="pwa_113.036"/> Dichtung bequemen, jener breiten, behaglichen Ausführlichkeit, <lb n="pwa_113.037"/> die jeden characteristischen und thatsächlichen Zug hervorhebt. War <lb n="pwa_113.038"/> die Fabel, da sie noch griechisch sprach, oft vielleicht zu laconisch <lb n="pwa_113.039"/> gewesen, so ward sie nun nicht selten über alle Gebühr redselig. <lb n="pwa_113.040"/> Man trug den epischen Theil derselben vor, wie man die eignen alten <lb n="pwa_113.041"/> Thiersagen vortrug und vortragen musste; und doch kam dann eben </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [113/0131]
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nur an den Verstand, nicht an das sittliche Gefühl des Lesers gerichtet, pwa_113.002
dass allerdings die poetische Form blosse, rein äusserliche Form ist, pwa_113.003
unbedingt und ungefordert durch den Inhalt. Noch eine Eigenthümlichkeit pwa_113.004
haben die äsopischen Fabeln, die für die weitere Entwickelung pwa_113.005
dieser Dichtungsart von Bedeutung geworden ist. Wie nämlich die pwa_113.006
epische Einkleidung oft, ja gewöhnlich uncharacteristisch und aufs pwa_113.007
Ungefähr hin erfunden ist, steht sie gewöhnlich auch in keinem rechten pwa_113.008
causalen Zusammenhange mit der gemeinten Lehre, und es könnte pwa_113.009
dieselbe Anschauung eben so gut irgend eine andre Lehre meinen, und pwa_113.010
dieselbe Lehre eben so gut anders umkleidet sein. Daher ist nun jeder pwa_113.011
Fabel ihre Nutzanwendung, jedem μῦθος sein ἐπιμύθιον beigefügt, pwa_113.012
das die Erfahrung oder die Vorschrift enthält, auf welche gezielt war. pwa_113.013
Billiger Weise darf man fragen: „Wenn doch die Lehre zuletzt didactisch pwa_113.014
unumwunden soll ausgesprochen werden, wozu vorher die episch umwundene pwa_113.015
Darstellung?“ Indessen es war einmal so; und so fehlte denn pwa_113.016
auch den Fabeln, welche die Lateiner fort und fort dem Aesop pwa_113.017
nachdichteten und nacherfanden, niemals dieser moralische Anhang; pwa_113.018
er fehlte auch nicht den Fabeln, welche das Mittelalter wieder den pwa_113.019
Lateinern ablernte und gewöhnlich in poetischer Form abfasste.
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In Deutschland begegnete der äsopischen Fabel ebenso viel pwa_113.021
Widerstand als Bereitwilligkeit, sie aufzunehmen. Sie stiess da auf pwa_113.022
ein Volk, das seine grösste Lust an episch belebten Anschauungen pwa_113.023
hatte, das auch schon seit langen Zeiten eine reiche Fülle von Thiersagen, pwa_113.024
ja einen eignen um den Fuchs Reinhart gesammelten Kreis pwa_113.025
von solchen besass: gleichwohl war eben diess Volk auch der Didaxis pwa_113.026
nicht feind. So ward die äsopische Fabel zwar aufgenommen: aber pwa_113.027
sie musste sich zweierlei gefallen lassen. Einmal, dass neben ihr die pwa_113.028
alte Thierepik fortbestand, während unter den Griechen und wo pwa_113.029
sonst die Lehrfabel sich von selber bildete, sie nur ins Leben trat durch pwa_113.030
den Tod der alten Thierepik; dass also noch im zwölften Jahrhundert pwa_113.031
durch Heinrich den Gleissner, einen Fahrenden des Elsasses, das mittelhochdeutsche pwa_113.032
Epos von Isengrins Noth (LB. 14, 229. 15, 407) verfasst pwa_113.033
wurde, ja noch im vierzehnten das niederländische vom Vos Reinaert. pwa_113.034
Sodann musste sich auch die äsopische Fabel selbst, so gut es gieng, pwa_113.035
nationalisieren: sie musste sich der nun gewohnten Weise aller epischen pwa_113.036
Dichtung bequemen, jener breiten, behaglichen Ausführlichkeit, pwa_113.037
die jeden characteristischen und thatsächlichen Zug hervorhebt. War pwa_113.038
die Fabel, da sie noch griechisch sprach, oft vielleicht zu laconisch pwa_113.039
gewesen, so ward sie nun nicht selten über alle Gebühr redselig. pwa_113.040
Man trug den epischen Theil derselben vor, wie man die eignen alten pwa_113.041
Thiersagen vortrug und vortragen musste; und doch kam dann eben
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