Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_136.001 pwa_136.029 pwa_136.001 pwa_136.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0154" n="136"/> <p><lb n="pwa_136.001"/> Wir haben in der bisherigen Erörterung der Elegie im antiken <lb n="pwa_136.002"/> Sinne des Wortes nirgend gesehen, dass die Wehmuth eigentlich und <lb n="pwa_136.003"/> unerlässlich zum Wesen derselben gehöre. Es ist ihr vielmehr, wie <lb n="pwa_136.004"/> wir gefunden, jedwede Regung und Aeusserung des Gefühles offen <lb n="pwa_136.005"/> gelassen, die Entfaltung jeglicher inneren Zustände, seien sie, welche <lb n="pwa_136.006"/> sie wollen, gestattet, wenn sie sich nur auf dem treibenden Grund <lb n="pwa_136.007"/> und Boden einer mit angeschauten und mit dargestellten Wirklichkeit <lb n="pwa_136.008"/> entfalten. Die Elegie hat zum alten Trauerliede, <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign>, nur die <lb n="pwa_136.009"/> Beziehung, dass die metrische Form des <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign> auf die Elegie übergegangen <lb n="pwa_136.010"/> und der <foreign xml:lang="grc">ἔλεγος</foreign> eine Art lyrischer Epik ist, wie die Elegie <lb n="pwa_136.011"/> eine Art epischer Lyrik. Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass <lb n="pwa_136.012"/> das ganze Wesen der Elegie eine wehmüthige Art und Weise der <lb n="pwa_136.013"/> Auffassung, wenn auch nicht fordre, doch sehr begünstige. Denn das <lb n="pwa_136.014"/> ist ja Wehmuth, wenn das Gefühl einen Widerspruch entdeckt zwischen <lb n="pwa_136.015"/> sich und der angeschauten Wirklichkeit, und wenn es nun in die <lb n="pwa_136.016"/> Betrachtung dieses Widerspruches sich vertieft mit still duldendem <lb n="pwa_136.017"/> und sich selbst nachhangendem Schmerz. Nirgend aber kann das Gefühl <lb n="pwa_136.018"/> leichter in einen solchen Widerspruch treten als bei Bildern der Natur, <lb n="pwa_136.019"/> den Gegenständen der Elegie; und auf keine Art kann sich die Wehmuth, <lb n="pwa_136.020"/> die den Schmerz langsam auskostet, anschaulicher äussern als <lb n="pwa_136.021"/> in dem stockenden, hin und her irrenden, alles berührenden Gange <lb n="pwa_136.022"/> der Elegie. Wenn man also auch nicht behaupten darf, dass die <lb n="pwa_136.023"/> Elegie Ausdruck der Wehmuth sein müsse, so ist doch so viel zuzugeben, <lb n="pwa_136.024"/> dass die Wehmuth sich nicht besser ausdrücken könne als <lb n="pwa_136.025"/> in der Form der antiken Elegie. Darauf beruht denn auch der hohe <lb n="pwa_136.026"/> Werth der Elegien Hölderlins: sie sind alle durchdrungen von dem <lb n="pwa_136.027"/> Gefühle wehmüthiger Vaterlandsliebe, sind Elegien des Heimwehs, <lb n="pwa_136.028"/> wie z. B. das Gedicht Der Wanderer (LB. 2, 1258).</p> <p><lb n="pwa_136.029"/> Die neuere Zeit hat aber den Begriff und den Namen der Elegie <lb n="pwa_136.030"/> so gewendet, dass er auf der einen Seite beschränkt, auf der andern <lb n="pwa_136.031"/> erweitert wurde. Beschränkt, insofern man nur solche Gedichte so <lb n="pwa_136.032"/> genannt hat, die eine gegebene Wirklichkeit mit Wehmuth betrachten, <lb n="pwa_136.033"/> erweitert, insofern man für die äussere Form der Darstellung alle <lb n="pwa_136.034"/> mögliche Freiheit gegeben und auch die moderne Reimstrophe zugelassen <lb n="pwa_136.035"/> hat. Solche Elegien haben wir zum Beispiel und namentlich von <lb n="pwa_136.036"/> Hölty und Matthisson. Matthisson lehnt sich auch hier an eine landschaftliche <lb n="pwa_136.037"/> Wirklichkeit: aber leider ist diese Wirklichkeit keine für <lb n="pwa_136.038"/> den Leser, da Matthisson nicht die Kunst besitzt, eine Landschaft <lb n="pwa_136.039"/> zur Anschauung zu bringen; so ruht denn auch die angeregte Wehmuth <lb n="pwa_136.040"/> auf keinem fest zusammenhangenden Boden mehr, der sie trüge <lb n="pwa_136.041"/> und hielte; der Leser gewahrt wohl einzelne Züge der Aeusserlichkeit </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [136/0154]
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Wir haben in der bisherigen Erörterung der Elegie im antiken pwa_136.002
Sinne des Wortes nirgend gesehen, dass die Wehmuth eigentlich und pwa_136.003
unerlässlich zum Wesen derselben gehöre. Es ist ihr vielmehr, wie pwa_136.004
wir gefunden, jedwede Regung und Aeusserung des Gefühles offen pwa_136.005
gelassen, die Entfaltung jeglicher inneren Zustände, seien sie, welche pwa_136.006
sie wollen, gestattet, wenn sie sich nur auf dem treibenden Grund pwa_136.007
und Boden einer mit angeschauten und mit dargestellten Wirklichkeit pwa_136.008
entfalten. Die Elegie hat zum alten Trauerliede, ἔλεγος, nur die pwa_136.009
Beziehung, dass die metrische Form des ἔλεγος auf die Elegie übergegangen pwa_136.010
und der ἔλεγος eine Art lyrischer Epik ist, wie die Elegie pwa_136.011
eine Art epischer Lyrik. Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass pwa_136.012
das ganze Wesen der Elegie eine wehmüthige Art und Weise der pwa_136.013
Auffassung, wenn auch nicht fordre, doch sehr begünstige. Denn das pwa_136.014
ist ja Wehmuth, wenn das Gefühl einen Widerspruch entdeckt zwischen pwa_136.015
sich und der angeschauten Wirklichkeit, und wenn es nun in die pwa_136.016
Betrachtung dieses Widerspruches sich vertieft mit still duldendem pwa_136.017
und sich selbst nachhangendem Schmerz. Nirgend aber kann das Gefühl pwa_136.018
leichter in einen solchen Widerspruch treten als bei Bildern der Natur, pwa_136.019
den Gegenständen der Elegie; und auf keine Art kann sich die Wehmuth, pwa_136.020
die den Schmerz langsam auskostet, anschaulicher äussern als pwa_136.021
in dem stockenden, hin und her irrenden, alles berührenden Gange pwa_136.022
der Elegie. Wenn man also auch nicht behaupten darf, dass die pwa_136.023
Elegie Ausdruck der Wehmuth sein müsse, so ist doch so viel zuzugeben, pwa_136.024
dass die Wehmuth sich nicht besser ausdrücken könne als pwa_136.025
in der Form der antiken Elegie. Darauf beruht denn auch der hohe pwa_136.026
Werth der Elegien Hölderlins: sie sind alle durchdrungen von dem pwa_136.027
Gefühle wehmüthiger Vaterlandsliebe, sind Elegien des Heimwehs, pwa_136.028
wie z. B. das Gedicht Der Wanderer (LB. 2, 1258).
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Die neuere Zeit hat aber den Begriff und den Namen der Elegie pwa_136.030
so gewendet, dass er auf der einen Seite beschränkt, auf der andern pwa_136.031
erweitert wurde. Beschränkt, insofern man nur solche Gedichte so pwa_136.032
genannt hat, die eine gegebene Wirklichkeit mit Wehmuth betrachten, pwa_136.033
erweitert, insofern man für die äussere Form der Darstellung alle pwa_136.034
mögliche Freiheit gegeben und auch die moderne Reimstrophe zugelassen pwa_136.035
hat. Solche Elegien haben wir zum Beispiel und namentlich von pwa_136.036
Hölty und Matthisson. Matthisson lehnt sich auch hier an eine landschaftliche pwa_136.037
Wirklichkeit: aber leider ist diese Wirklichkeit keine für pwa_136.038
den Leser, da Matthisson nicht die Kunst besitzt, eine Landschaft pwa_136.039
zur Anschauung zu bringen; so ruht denn auch die angeregte Wehmuth pwa_136.040
auf keinem fest zusammenhangenden Boden mehr, der sie trüge pwa_136.041
und hielte; der Leser gewahrt wohl einzelne Züge der Aeusserlichkeit
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