Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_143.001 pwa_143.016 pwa_143.001 pwa_143.016 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0161" n="143"/><lb n="pwa_143.001"/> nicht besonders und ausschliesslich eigenthümlich, aber er war darin <lb n="pwa_143.002"/> wohl besonders ausgezeichnet: es ist wohl kaum zufällig, dass nur <lb n="pwa_143.003"/> dergleichen Gedichte zahlreich und vollständig auf uns gekommen <lb n="pwa_143.004"/> sind, während von andern, z. B. von Threnen, Hymnen, Päanen <lb n="pwa_143.005"/> u. dgl. nur vereinzelte Fragmente erhalten sind. Zwischen Epinikien <lb n="pwa_143.006"/> und Enkomien besteht ein Unterschied der dichterischen Behandlungsweise. <lb n="pwa_143.007"/> In den Epinikien tritt die Persönlichkeit des Besungenen beinahe <lb n="pwa_143.008"/> ganz in den Hintergrund: häufig wird eben nur sein Name <lb n="pwa_143.009"/> genannt, er kommt nur in Betracht als Repräsentant seines Stammes <lb n="pwa_143.010"/> und Vaterlandes, sein Stamm aber auch nur wieder als Glied des <lb n="pwa_143.011"/> ganzen hellenischen Volkes, wie das Nationalfest diese grosse einige <lb n="pwa_143.012"/> Gesammtheit auswiess; und darüber schwebt dann noch als höchste <lb n="pwa_143.013"/> Einheit, die von aller menschlichen und persönlichen Einseitigkeit <lb n="pwa_143.014"/> abführt, der nationale Gott, dem die Spiele geweiht waren, der den <lb n="pwa_143.015"/> Spielen vorstand.</p> <p><lb n="pwa_143.016"/> In den Enkomien tritt die Persönlichkeit dessen, dem der Gesang <lb n="pwa_143.017"/> gilt, weniger zurück, hier ist es vorzüglich auf sein Lob, auf seinen <lb n="pwa_143.018"/> Ruhm und Preis abgesehen, weniger auf den Ruhm und Preis des <lb n="pwa_143.019"/> Gottes und des Volkes; hier ist von diesem nur in untergeordnetem <lb n="pwa_143.020"/> Masse die Rede; übrigens sind die Enkomien minder zahlreich als <lb n="pwa_143.021"/> die Epinikien. Wie also namentlich in den Epinikien der gefeierte <lb n="pwa_143.022"/> Sieger nur für den Stellvertreter des ganzen griechischen Volkes gilt, <lb n="pwa_143.023"/> so wird auch von Seiten des feiernden Sängers und seines Festgesanges <lb n="pwa_143.024"/> eine allgemein nationale Gültigkeit angesprochen: der Sieger ist der <lb n="pwa_143.025"/> Held, der Dichter will auch nur die dichterische Stimme des Volkes <lb n="pwa_143.026"/> sein, und darum wird sein Festlied auch nicht von ihm allein, sondern <lb n="pwa_143.027"/> von einem ganzen Chor gesungen, gleichsam vom Volke im <lb n="pwa_143.028"/> Kleinen, wie denn überhaupt die dorische Lyrik eine chorische ist; <lb n="pwa_143.029"/> zum antiken Chorgesange gehört aber nicht bloss, dass es eine grössere <lb n="pwa_143.030"/> Anzahl von Sängern sei, welche sich vereinigen, sondern auch, dass <lb n="pwa_143.031"/> der Gesang und das ihn tragende und haltende Spiel der Leyer und <lb n="pwa_143.032"/> der Flöte begleitet werde vom Tanz: so denn auch bei Pindar: wir <lb n="pwa_143.033"/> erblicken also hier wiederum die drei rhythmischen und transitorischen <lb n="pwa_143.034"/> Künste der Poesie, der Musik und des Tanzes in ihrer natürlichen <lb n="pwa_143.035"/> Verbindung. Diese Verbindung hatte schon vor Pindar die eigenthümliche <lb n="pwa_143.036"/> Gliederung der Chorgesänge in Strophen, Antistrophen und <lb n="pwa_143.037"/> Epoden herbeigeführt: bei der <foreign xml:lang="grc">στροφή</foreign>, d. h. Wendung, gieng der <lb n="pwa_143.038"/> Chor in zwei Hälften aus einander, bei der <foreign xml:lang="grc">ἀντιστροφή</foreign> näherten sie <lb n="pwa_143.039"/> sich wieder durch eine Gegenwendung; die <foreign xml:lang="grc">ἐπῳδός</foreign>, d. h. Zugesang, <lb n="pwa_143.040"/> die übrigens nicht immer, aber doch gewöhnlich vorkam, bezeichnet <lb n="pwa_143.041"/> die Sammlung und Vereinigung der getrennten Hälften. Also, ganz </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [143/0161]
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nicht besonders und ausschliesslich eigenthümlich, aber er war darin pwa_143.002
wohl besonders ausgezeichnet: es ist wohl kaum zufällig, dass nur pwa_143.003
dergleichen Gedichte zahlreich und vollständig auf uns gekommen pwa_143.004
sind, während von andern, z. B. von Threnen, Hymnen, Päanen pwa_143.005
u. dgl. nur vereinzelte Fragmente erhalten sind. Zwischen Epinikien pwa_143.006
und Enkomien besteht ein Unterschied der dichterischen Behandlungsweise. pwa_143.007
In den Epinikien tritt die Persönlichkeit des Besungenen beinahe pwa_143.008
ganz in den Hintergrund: häufig wird eben nur sein Name pwa_143.009
genannt, er kommt nur in Betracht als Repräsentant seines Stammes pwa_143.010
und Vaterlandes, sein Stamm aber auch nur wieder als Glied des pwa_143.011
ganzen hellenischen Volkes, wie das Nationalfest diese grosse einige pwa_143.012
Gesammtheit auswiess; und darüber schwebt dann noch als höchste pwa_143.013
Einheit, die von aller menschlichen und persönlichen Einseitigkeit pwa_143.014
abführt, der nationale Gott, dem die Spiele geweiht waren, der den pwa_143.015
Spielen vorstand.
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In den Enkomien tritt die Persönlichkeit dessen, dem der Gesang pwa_143.017
gilt, weniger zurück, hier ist es vorzüglich auf sein Lob, auf seinen pwa_143.018
Ruhm und Preis abgesehen, weniger auf den Ruhm und Preis des pwa_143.019
Gottes und des Volkes; hier ist von diesem nur in untergeordnetem pwa_143.020
Masse die Rede; übrigens sind die Enkomien minder zahlreich als pwa_143.021
die Epinikien. Wie also namentlich in den Epinikien der gefeierte pwa_143.022
Sieger nur für den Stellvertreter des ganzen griechischen Volkes gilt, pwa_143.023
so wird auch von Seiten des feiernden Sängers und seines Festgesanges pwa_143.024
eine allgemein nationale Gültigkeit angesprochen: der Sieger ist der pwa_143.025
Held, der Dichter will auch nur die dichterische Stimme des Volkes pwa_143.026
sein, und darum wird sein Festlied auch nicht von ihm allein, sondern pwa_143.027
von einem ganzen Chor gesungen, gleichsam vom Volke im pwa_143.028
Kleinen, wie denn überhaupt die dorische Lyrik eine chorische ist; pwa_143.029
zum antiken Chorgesange gehört aber nicht bloss, dass es eine grössere pwa_143.030
Anzahl von Sängern sei, welche sich vereinigen, sondern auch, dass pwa_143.031
der Gesang und das ihn tragende und haltende Spiel der Leyer und pwa_143.032
der Flöte begleitet werde vom Tanz: so denn auch bei Pindar: wir pwa_143.033
erblicken also hier wiederum die drei rhythmischen und transitorischen pwa_143.034
Künste der Poesie, der Musik und des Tanzes in ihrer natürlichen pwa_143.035
Verbindung. Diese Verbindung hatte schon vor Pindar die eigenthümliche pwa_143.036
Gliederung der Chorgesänge in Strophen, Antistrophen und pwa_143.037
Epoden herbeigeführt: bei der στροφή, d. h. Wendung, gieng der pwa_143.038
Chor in zwei Hälften aus einander, bei der ἀντιστροφή näherten sie pwa_143.039
sich wieder durch eine Gegenwendung; die ἐπῳδός, d. h. Zugesang, pwa_143.040
die übrigens nicht immer, aber doch gewöhnlich vorkam, bezeichnet pwa_143.041
die Sammlung und Vereinigung der getrennten Hälften. Also, ganz
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