Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_003.001 pwa_003.028 pwa_003.001 pwa_003.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0021" n="3"/><lb n="pwa_003.001"/> als ein Volk das Richtige geahnt und getroffen und in dem gewählten <lb n="pwa_003.002"/> Ausdrucke ausgesprochen. Die althochdeutsche Sprache hatte für <lb n="pwa_003.003"/> <hi rendition="#i">schön</hi> das Wort <hi rendition="#i">vakar,</hi> die altnordische <hi rendition="#i">fagr</hi> (man denke an Harald <lb n="pwa_003.004"/> Hârfagr, d. h. Schönhaar, den Stifter des einigen norwegischen Reiches <lb n="pwa_003.005"/> c. 875), und beide sind etymologisch verwandt mit <foreign xml:lang="grc">παχύς</foreign> dicht, <lb n="pwa_003.006"/> fest. Nicht so philosophisch bedeutsam ist unser Wort <hi rendition="#i">schön.</hi> Philosophen <lb n="pwa_003.007"/> wie Kant und Hegel leiten dasselbe von <hi rendition="#i">scheinen</hi> her, was <lb n="pwa_003.008"/> jedoch etymologisch unmöglich ist; es gehört vielmehr zu <hi rendition="#i">schauen.</hi> <lb n="pwa_003.009"/> Die althochdeutsche Form <hi rendition="#i">skaoni</hi> bezeichnet, was man gern schaut, <lb n="pwa_003.010"/> was angenehm in die Augen fällt: aber bald wird das Wort auch als <lb n="pwa_003.011"/> der Ausdruck für das Vollständige, Vollkommene aufgefasst: ein <hi rendition="#i">schöner <lb n="pwa_003.012"/> Tag</hi> ist also ein vollständig heller Tag im Gegensatz zur Dämmerung <lb n="pwa_003.013"/> und zum Zwielicht. Von <hi rendition="#i">schön</hi> stammt auch <hi rendition="#i">schonen,</hi> d. h. <lb n="pwa_003.014"/> ganz und unverkümmert lassen. Wie <hi rendition="#i">schön,</hi> so geht auch das griechische <lb n="pwa_003.015"/> <foreign xml:lang="grc">καλός</foreign> auf den Gesichtssinn, es ist verwandt mit dem deutschen <lb n="pwa_003.016"/> <hi rendition="#i">hell</hi> und von gleicher Wurzel wie <foreign xml:lang="grc">κέλομαι, καλέω</foreign>, <hi rendition="#i">calare.</hi> Der <lb n="pwa_003.017"/> Zusammenhang des Hellen und des Schönen zeigt sich auch in <foreign xml:lang="grc">λευκός</foreign>, <lb n="pwa_003.018"/> das sowohl das Leuchtende als auch das Schöne bezeichnet. Noch mag <lb n="pwa_003.019"/> bemerkt werden, weil es die Zusammengehörigkeit des Schönen und <lb n="pwa_003.020"/> des Guten, die Kalokagathie, auch auf sprachlichem Wege und auch <lb n="pwa_003.021"/> für das Deutsche bestätigt, dass Ulfilas in der gothischen Bibelübersetzung <lb n="pwa_003.022"/> den Begriff <hi rendition="#i">schön</hi> mit <hi rendition="#i">gôds</hi> d. h. gut, den Begriff <hi rendition="#i">gut</hi> mit <hi rendition="#i">fagrs</hi> <lb n="pwa_003.023"/> d. h. schön ausdrückt: so z. B. Luc. 14, 34. 35, wo <hi rendition="#i">gôd</hi> dem griechischen <lb n="pwa_003.024"/> <foreign xml:lang="grc">καλόν</foreign> und <hi rendition="#i">fagr</hi> dem griechischen <foreign xml:lang="grc">εὔθετον</foreign> entspricht. Im <lb n="pwa_003.025"/> Mittelhochdeutschen gelten <hi rendition="#i">vuoge</hi> und <hi rendition="#i">gevüege</hi> nicht nur von künstlerischer <lb n="pwa_003.026"/> Geschicklichkeit, sondern auch von sittlicher Schicklichkeit und <lb n="pwa_003.027"/> Wohlanständigkeit.</p> <p><lb n="pwa_003.028"/> Welche Mittel sind es nun, durch die der Geist des Menschen <lb n="pwa_003.029"/> das Schöne in sich aufnimmt und sich desselben bemächtigt? Drei <lb n="pwa_003.030"/> Seelenkräfte treten hier in Wirksamkeit. Zuerst und hauptsächlich <lb n="pwa_003.031"/> die Einbildungskraft, die entweder Erinnerung ist oder Phantasie, <lb n="pwa_003.032"/> entweder reproduciert oder produciert, entweder als Gedächtniss früher <lb n="pwa_003.033"/> gewonnene Vorstellungen nur erneuert oder aber nach Analogie <lb n="pwa_003.034"/> solcher älterer Vorstellungen als Phantasie neue erzeugt und schafft. <lb n="pwa_003.035"/> Ganz und gar neue nicht, nie ganz unerhörte, noch gar nie dagewesene: <lb n="pwa_003.036"/> immer noch Analogien von Gedächtnissbildern. Selbst die ausschweifendste <lb n="pwa_003.037"/> Phantasie schafft immer nur mit Gestalten, welche ihr <lb n="pwa_003.038"/> die Erinnerung an die Hand giebt. Die Einbildungskraft gewährt die <lb n="pwa_003.039"/> unzertrennte Anschauung des Schönen, giebt das Ganze mit und in <lb n="pwa_003.040"/> den Theilen, die Theile in und mit dem Ganzen. Sie ist das eigentliche <lb n="pwa_003.041"/> Substrat des menschlichen Triebes zum Schaffen und Gestalten, </p> </div> </body> </text> </TEI> [3/0021]
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als ein Volk das Richtige geahnt und getroffen und in dem gewählten pwa_003.002
Ausdrucke ausgesprochen. Die althochdeutsche Sprache hatte für pwa_003.003
schön das Wort vakar, die altnordische fagr (man denke an Harald pwa_003.004
Hârfagr, d. h. Schönhaar, den Stifter des einigen norwegischen Reiches pwa_003.005
c. 875), und beide sind etymologisch verwandt mit παχύς dicht, pwa_003.006
fest. Nicht so philosophisch bedeutsam ist unser Wort schön. Philosophen pwa_003.007
wie Kant und Hegel leiten dasselbe von scheinen her, was pwa_003.008
jedoch etymologisch unmöglich ist; es gehört vielmehr zu schauen. pwa_003.009
Die althochdeutsche Form skaoni bezeichnet, was man gern schaut, pwa_003.010
was angenehm in die Augen fällt: aber bald wird das Wort auch als pwa_003.011
der Ausdruck für das Vollständige, Vollkommene aufgefasst: ein schöner pwa_003.012
Tag ist also ein vollständig heller Tag im Gegensatz zur Dämmerung pwa_003.013
und zum Zwielicht. Von schön stammt auch schonen, d. h. pwa_003.014
ganz und unverkümmert lassen. Wie schön, so geht auch das griechische pwa_003.015
καλός auf den Gesichtssinn, es ist verwandt mit dem deutschen pwa_003.016
hell und von gleicher Wurzel wie κέλομαι, καλέω, calare. Der pwa_003.017
Zusammenhang des Hellen und des Schönen zeigt sich auch in λευκός, pwa_003.018
das sowohl das Leuchtende als auch das Schöne bezeichnet. Noch mag pwa_003.019
bemerkt werden, weil es die Zusammengehörigkeit des Schönen und pwa_003.020
des Guten, die Kalokagathie, auch auf sprachlichem Wege und auch pwa_003.021
für das Deutsche bestätigt, dass Ulfilas in der gothischen Bibelübersetzung pwa_003.022
den Begriff schön mit gôds d. h. gut, den Begriff gut mit fagrs pwa_003.023
d. h. schön ausdrückt: so z. B. Luc. 14, 34. 35, wo gôd dem griechischen pwa_003.024
καλόν und fagr dem griechischen εὔθετον entspricht. Im pwa_003.025
Mittelhochdeutschen gelten vuoge und gevüege nicht nur von künstlerischer pwa_003.026
Geschicklichkeit, sondern auch von sittlicher Schicklichkeit und pwa_003.027
Wohlanständigkeit.
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Welche Mittel sind es nun, durch die der Geist des Menschen pwa_003.029
das Schöne in sich aufnimmt und sich desselben bemächtigt? Drei pwa_003.030
Seelenkräfte treten hier in Wirksamkeit. Zuerst und hauptsächlich pwa_003.031
die Einbildungskraft, die entweder Erinnerung ist oder Phantasie, pwa_003.032
entweder reproduciert oder produciert, entweder als Gedächtniss früher pwa_003.033
gewonnene Vorstellungen nur erneuert oder aber nach Analogie pwa_003.034
solcher älterer Vorstellungen als Phantasie neue erzeugt und schafft. pwa_003.035
Ganz und gar neue nicht, nie ganz unerhörte, noch gar nie dagewesene: pwa_003.036
immer noch Analogien von Gedächtnissbildern. Selbst die ausschweifendste pwa_003.037
Phantasie schafft immer nur mit Gestalten, welche ihr pwa_003.038
die Erinnerung an die Hand giebt. Die Einbildungskraft gewährt die pwa_003.039
unzertrennte Anschauung des Schönen, giebt das Ganze mit und in pwa_003.040
den Theilen, die Theile in und mit dem Ganzen. Sie ist das eigentliche pwa_003.041
Substrat des menschlichen Triebes zum Schaffen und Gestalten,
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