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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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auf ihr fusst und beruht der Kunsttrieb; ohne sie kann der Mensch pwa_004.002
unmöglich das Schöne sich zu eigen machen. Wie aber vorher bemerkt pwa_004.003
worden ist, dass verlassen vom Guten und vom Wahren das pwa_004.004
Schöne nicht bestehen könne, so führt denn auch die blosse Einbildungskraft pwa_004.005
nicht zum Ziel: mit ihr allein kann der Mensch niemals pwa_004.006
das Schöne als solches ganz fassen und begreifen, sie allein wird pwa_004.007
seinen Geist ebenso leicht auch mit unschönen und hässlichen Bildern pwa_004.008
anfüllen. Es müssen eben noch die beiden anderen Kräfte wirkend pwa_004.009
dazu treten, das Gefühl und der Verstand. Das Gefühl, natürlich pwa_004.010
hier von seiner höheren geistigen, nicht von der sinnlichen Seite aufgefasst, pwa_004.011
oder wie man es nennt, wenn es nicht bloss jezuweilen angeregt pwa_004.012
wird, sondern in beständig gleich warmer und vorwaltender pwa_004.013
Wirksamkeit bleibt, das Gemüth, entscheidet, je nachdem es angenehm pwa_004.014
oder unangenehm berührt wird, über Lust oder Unlust an den Anschauungen pwa_004.015
der Einbildungskraft: Gefühl und Gemüth sind der sittliche pwa_004.016
Prüfstein der letzteren: denn das Gefühl ist diejenige Seelenkraft, pwa_004.017
welche den Menschen zum Guten treibt; es ist das irdische pwa_004.018
Schattenbild der göttlichen Güte. Wie also die Einbildung dem Kunsttriebe pwa_004.019
und das Gefühl der Sittlichkeit dient, wie jene zum Schönen pwa_004.020
führt, dieses das Schöne als gut erkennen lässt, so dient endlich die pwa_004.021
dritte Kraft, der Verstand, dem Streben nach dem Wahren, dem pwa_004.022
Wissenstriebe; er hat dann auch noch seine Hand anzulegen an die pwa_004.023
von der Einbildung geschaffene, von dem Gefühl genehmigte Anschauung; pwa_004.024
er hat sie auf Wahrheit oder Unwahrheit hin zu prüfen; er hat besonders, pwa_004.025
während die Einbildung auf einmal ein Ganzes giebt, diess pwa_004.026
Ganze in seinen Theilen aufzufassen, und zu untersuchen, ob und wie pwa_004.027
dem Ganzen nichts zur Einheit und Vollkommenheit gebreche, ob pwa_004.028
auch nichts zu viel sei; er nimmt also neben dem Gefühl auch seinen pwa_004.029
Antheil, aber mehr nur einen negativen, an der Entscheidung über pwa_004.030
Schönheit und Unschönheit der ihm vorgelegten Anschauung. Natürlich pwa_004.031
geht die Thätigkeit der drei genannten Kräfte nicht in so langsamer pwa_004.032
Reihenfolge vor sich, wie ihr Stufengang so eben ist beschrieben pwa_004.033
worden: diese drei Stadien werden ebensowohl in Einem Augenblick pwa_004.034
durchlaufen, wie auch der Blitz in einem und demselben Augenblick pwa_004.035
sich entzündet und die Luft durchschneidet und trifft.

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Grade aber wie es Menschen giebt, bei denen der schöpferische pwa_004.037
Kunsttrieb überwiegt, die also vorzugsweise Künstler, andre, die durch pwa_004.038
Tugend grösser sind, weil in ihnen der Trieb zum Guten vorherrscht, pwa_004.039
andere endlich, die sich in der Wissenschaft auszeichnen, weil in ihnen pwa_004.040
das Streben nach dem Wahren das vorwaltende ist: grade so wirken pwa_004.041
auch bei der Conception des Schönen die genannten drei Seelenkräfte

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auf ihr fusst und beruht der Kunsttrieb; ohne sie kann der Mensch pwa_004.002
unmöglich das Schöne sich zu eigen machen. Wie aber vorher bemerkt pwa_004.003
worden ist, dass verlassen vom Guten und vom Wahren das pwa_004.004
Schöne nicht bestehen könne, so führt denn auch die blosse Einbildungskraft pwa_004.005
nicht zum Ziel: mit ihr allein kann der Mensch niemals pwa_004.006
das Schöne als solches ganz fassen und begreifen, sie allein wird pwa_004.007
seinen Geist ebenso leicht auch mit unschönen und hässlichen Bildern pwa_004.008
anfüllen. Es müssen eben noch die beiden anderen Kräfte wirkend pwa_004.009
dazu treten, das Gefühl und der Verstand. Das Gefühl, natürlich pwa_004.010
hier von seiner höheren geistigen, nicht von der sinnlichen Seite aufgefasst, pwa_004.011
oder wie man es nennt, wenn es nicht bloss jezuweilen angeregt pwa_004.012
wird, sondern in beständig gleich warmer und vorwaltender pwa_004.013
Wirksamkeit bleibt, das Gemüth, entscheidet, je nachdem es angenehm pwa_004.014
oder unangenehm berührt wird, über Lust oder Unlust an den Anschauungen pwa_004.015
der Einbildungskraft: Gefühl und Gemüth sind der sittliche pwa_004.016
Prüfstein der letzteren: denn das Gefühl ist diejenige Seelenkraft, pwa_004.017
welche den Menschen zum Guten treibt; es ist das irdische pwa_004.018
Schattenbild der göttlichen Güte. Wie also die Einbildung dem Kunsttriebe pwa_004.019
und das Gefühl der Sittlichkeit dient, wie jene zum Schönen pwa_004.020
führt, dieses das Schöne als gut erkennen lässt, so dient endlich die pwa_004.021
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Wissenstriebe; er hat dann auch noch seine Hand anzulegen an die pwa_004.023
von der Einbildung geschaffene, von dem Gefühl genehmigte Anschauung; pwa_004.024
er hat sie auf Wahrheit oder Unwahrheit hin zu prüfen; er hat besonders, pwa_004.025
während die Einbildung auf einmal ein Ganzes giebt, diess pwa_004.026
Ganze in seinen Theilen aufzufassen, und zu untersuchen, ob und wie pwa_004.027
dem Ganzen nichts zur Einheit und Vollkommenheit gebreche, ob pwa_004.028
auch nichts zu viel sei; er nimmt also neben dem Gefühl auch seinen pwa_004.029
Antheil, aber mehr nur einen negativen, an der Entscheidung über pwa_004.030
Schönheit und Unschönheit der ihm vorgelegten Anschauung. Natürlich pwa_004.031
geht die Thätigkeit der drei genannten Kräfte nicht in so langsamer pwa_004.032
Reihenfolge vor sich, wie ihr Stufengang so eben ist beschrieben pwa_004.033
worden: diese drei Stadien werden ebensowohl in Einem Augenblick pwa_004.034
durchlaufen, wie auch der Blitz in einem und demselben Augenblick pwa_004.035
sich entzündet und die Luft durchschneidet und trifft.

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Grade aber wie es Menschen giebt, bei denen der schöpferische pwa_004.037
Kunsttrieb überwiegt, die also vorzugsweise Künstler, andre, die durch pwa_004.038
Tugend grösser sind, weil in ihnen der Trieb zum Guten vorherrscht, pwa_004.039
andere endlich, die sich in der Wissenschaft auszeichnen, weil in ihnen pwa_004.040
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/22>, abgerufen am 21.11.2024.