Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_005.001 pwa_005.013 pwa_005.001 pwa_005.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0023" n="5"/><lb n="pwa_005.001"/> nicht überall, nicht zu allen Zeiten, nicht bei Jedem in der gleichen <lb n="pwa_005.002"/> Mischung, sondern es giebt Völker und Zeiten, es giebt Künstler und <lb n="pwa_005.003"/> Kunstgattungen, in denen die Einbildungskraft, andere, in denen das <lb n="pwa_005.004"/> Gefühl, andere, in denen der Verstand die stärkste und wirksamste <lb n="pwa_005.005"/> Feder des geistigen Mechanismus ist. Nur wenigen Erwählten ist es <lb n="pwa_005.006"/> gegeben, gleich eifrig und gleich glücklich das Gute, das Wahre, das <lb n="pwa_005.007"/> Schöne anzustreben; nur wenigen Künstlern, nur einzelnen Kunstgattungen <lb n="pwa_005.008"/> und Zeiten und Völkern eben solchen Reichthum an Einbildung <lb n="pwa_005.009"/> aufzuweisen als Feinheit des Gefühls und Klarheit des Verstandes; <lb n="pwa_005.010"/> wie unter den Künstlern Michel Angelo und Goethe, unter <lb n="pwa_005.011"/> den Kunstgattungen der Malerei und dem Drama, unter den Völkern <lb n="pwa_005.012"/> den alten Griechen und theilweise den Deutschen.</p> <p><lb n="pwa_005.013"/> Bis jetzt haben wir nur gesehen, wie der menschliche Geist in <lb n="pwa_005.014"/> sich das Schöne anschaue: lassen Sie uns nunmehr betrachten, auf <lb n="pwa_005.015"/> welche Weise er diess Innerliche nun auch äusserlich wahrnehmbar <lb n="pwa_005.016"/> mache, auf welchen Wegen die bis dahin nur noch geistige Schöpfung <lb n="pwa_005.017"/> in die äussere Sinnenwelt eintrete. Es giebt der Weisen mehrere, <lb n="pwa_005.018"/> der hauptsächlichen Wege zwei: die Benennung dieser äusserlichen <lb n="pwa_005.019"/> Darstellung ist aber stäts dieselbe, nämlich <hi rendition="#i">Kunst,</hi> <foreign xml:lang="grc">τέχνη</foreign>, <hi rendition="#i">ars.</hi> Alle <lb n="pwa_005.020"/> drei Worte erleiden freilich auch eine weitere Anwendung, auch <lb n="pwa_005.021"/> manche bloss mechanische Fertigkeit, deren Zweck nicht das Schöne, <lb n="pwa_005.022"/> nur das Nützliche, Zweckmässige, Bequeme ist, wird so genannt; auch <lb n="pwa_005.023"/> die Beschäftigung, deren Ziel nur die Wahrheit ist, die Wissenschaft <lb n="pwa_005.024"/> (liberales artes), auch die Grammatik, welche früher Sprachkunst <lb n="pwa_005.025"/> hiess. Diese weitere Ausdehnung ist besonders im Deutschen etymologisch <lb n="pwa_005.026"/> vollkommen begründet: <hi rendition="#i">Kunst</hi> ist von <hi rendition="#i">können</hi> in derselben <lb n="pwa_005.027"/> Weise gebildet wie Gunst von gönnen, Brunst von brennen, und <lb n="pwa_005.028"/> wurde früher von innerer geistiger Fähigkeit gebraucht im Gegensatz <lb n="pwa_005.029"/> zu <hi rendition="#i">mögen,</hi> das eine äussere Befähigung ausdrückt. Indessen im engeren <lb n="pwa_005.030"/> Sinne, in der Sprache der Wissenschaft, bedeutet <hi rendition="#i">Kunst</hi> s. v. a. <lb n="pwa_005.031"/> Darstellung des Schönen als solchen und die Fertigkeit zu solcher <lb n="pwa_005.032"/> Darstellung. Dieser Beschränkung des Sinnes entspricht auch die <lb n="pwa_005.033"/> Etymologie des griechischen und des lateinischen Namens. <foreign xml:lang="grc">Τέχνη</foreign> ist <lb n="pwa_005.034"/> nicht von <foreign xml:lang="grc">τεύχω</foreign> (machen) abzuleiten, es gehört vielmehr zu <foreign xml:lang="grc">τίκτω</foreign> <lb n="pwa_005.035"/> (aor. <foreign xml:lang="grc">ἔτεκον</foreign>) und bezeichnet also eine Schöpfung; <hi rendition="#i">ars</hi> wie <hi rendition="#i">artus</hi> (Glied) <lb n="pwa_005.036"/> gehört zu <foreign xml:lang="grc">ἄρω, ἀραρίσκω</foreign> füge, verbinde: vorher aber ist ausgeführt <lb n="pwa_005.037"/> worden, wie der Kunsttrieb des Menschen nur ein Nachhall von Gottes <lb n="pwa_005.038"/> schöpfender Allmacht sei (<foreign xml:lang="grc">τέχνη</foreign>), und wie das Fügen und Verbinden <lb n="pwa_005.039"/> (ars) zum Wesen des Schönen gehöre. <hi rendition="#i">Kunst, ars,</hi> <foreign xml:lang="grc">τέχνη</foreign> bezeichnen <lb n="pwa_005.040"/> also die Darstellung des Schönen als solchen, oder wenn man will <lb n="pwa_005.041"/> die schöne Darstellung des Schönen. Darstellung des Schönen, diess </p> </div> </body> </text> </TEI> [5/0023]
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nicht überall, nicht zu allen Zeiten, nicht bei Jedem in der gleichen pwa_005.002
Mischung, sondern es giebt Völker und Zeiten, es giebt Künstler und pwa_005.003
Kunstgattungen, in denen die Einbildungskraft, andere, in denen das pwa_005.004
Gefühl, andere, in denen der Verstand die stärkste und wirksamste pwa_005.005
Feder des geistigen Mechanismus ist. Nur wenigen Erwählten ist es pwa_005.006
gegeben, gleich eifrig und gleich glücklich das Gute, das Wahre, das pwa_005.007
Schöne anzustreben; nur wenigen Künstlern, nur einzelnen Kunstgattungen pwa_005.008
und Zeiten und Völkern eben solchen Reichthum an Einbildung pwa_005.009
aufzuweisen als Feinheit des Gefühls und Klarheit des Verstandes; pwa_005.010
wie unter den Künstlern Michel Angelo und Goethe, unter pwa_005.011
den Kunstgattungen der Malerei und dem Drama, unter den Völkern pwa_005.012
den alten Griechen und theilweise den Deutschen.
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Bis jetzt haben wir nur gesehen, wie der menschliche Geist in pwa_005.014
sich das Schöne anschaue: lassen Sie uns nunmehr betrachten, auf pwa_005.015
welche Weise er diess Innerliche nun auch äusserlich wahrnehmbar pwa_005.016
mache, auf welchen Wegen die bis dahin nur noch geistige Schöpfung pwa_005.017
in die äussere Sinnenwelt eintrete. Es giebt der Weisen mehrere, pwa_005.018
der hauptsächlichen Wege zwei: die Benennung dieser äusserlichen pwa_005.019
Darstellung ist aber stäts dieselbe, nämlich Kunst, τέχνη, ars. Alle pwa_005.020
drei Worte erleiden freilich auch eine weitere Anwendung, auch pwa_005.021
manche bloss mechanische Fertigkeit, deren Zweck nicht das Schöne, pwa_005.022
nur das Nützliche, Zweckmässige, Bequeme ist, wird so genannt; auch pwa_005.023
die Beschäftigung, deren Ziel nur die Wahrheit ist, die Wissenschaft pwa_005.024
(liberales artes), auch die Grammatik, welche früher Sprachkunst pwa_005.025
hiess. Diese weitere Ausdehnung ist besonders im Deutschen etymologisch pwa_005.026
vollkommen begründet: Kunst ist von können in derselben pwa_005.027
Weise gebildet wie Gunst von gönnen, Brunst von brennen, und pwa_005.028
wurde früher von innerer geistiger Fähigkeit gebraucht im Gegensatz pwa_005.029
zu mögen, das eine äussere Befähigung ausdrückt. Indessen im engeren pwa_005.030
Sinne, in der Sprache der Wissenschaft, bedeutet Kunst s. v. a. pwa_005.031
Darstellung des Schönen als solchen und die Fertigkeit zu solcher pwa_005.032
Darstellung. Dieser Beschränkung des Sinnes entspricht auch die pwa_005.033
Etymologie des griechischen und des lateinischen Namens. Τέχνη ist pwa_005.034
nicht von τεύχω (machen) abzuleiten, es gehört vielmehr zu τίκτω pwa_005.035
(aor. ἔτεκον) und bezeichnet also eine Schöpfung; ars wie artus (Glied) pwa_005.036
gehört zu ἄρω, ἀραρίσκω füge, verbinde: vorher aber ist ausgeführt pwa_005.037
worden, wie der Kunsttrieb des Menschen nur ein Nachhall von Gottes pwa_005.038
schöpfender Allmacht sei (τέχνη), und wie das Fügen und Verbinden pwa_005.039
(ars) zum Wesen des Schönen gehöre. Kunst, ars, τέχνη bezeichnen pwa_005.040
also die Darstellung des Schönen als solchen, oder wenn man will pwa_005.041
die schöne Darstellung des Schönen. Darstellung des Schönen, diess
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