pwa_211.001 versichert, sowie es historisch oder sagenhaft berühmte Namen sind, pwa_211.002 die er zu Trägern seiner Handlung erwählt. Mit Recht bemerkt Jean pwa_211.003 Paul (Vorschul. S. 500): "Ein bekannt-historischer Character, z. B. pwa_211.004 Socrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und pwa_211.005 setzt sein Cognito voraus: ein Name ist hier eine Menge Situationen. pwa_211.006 Hier erschafft schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung."
pwa_211.007 Man darf dagegen nicht einwerfen, dass das Interesse des Reproducierenden pwa_211.008 viel grösser sein müsse, wenn ihm die Wirklichkeit der pwa_211.009 dramatischen Handlung noch ganz unbekannt sei, wenn also der pwa_211.010 Dichter selbst sie erst erfunden. Dann werde er erst recht mit pwa_211.011 gespannter Erwartung dem weiteren Verlauf und dem letzten Ausgange pwa_211.012 der Handlung nachfolgen und entgegenschauen; viel grösser pwa_211.013 sei alsdann das Interesse, als wenn man schon durch Lesen oder pwa_211.014 Hörensagen Alles zum voraus wisse. Dieser Einwurf hat allerdings pwa_211.015 viel Schein für sich; mehr aber nicht. Der Kunst ist nichts verderblicher pwa_211.016 als solch eine gespannte Erwartung, die der gemeinen Neugierde pwa_211.017 wahrlich um vieles näher liegt als dem eigentlichen künstlerischen pwa_211.018 Interesse. Das wahre Interesse wird weniger nach einzelnen Begebenheiten pwa_211.019 fragen: denn es soll hier ja keine Geschichte erzählt, sondern pwa_211.020 eine dramatische Handlung vorgeführt werden; es wird vielmehr eben pwa_211.021 auf die Handlung achten, d. h. auf die Art und Weise, wie der Tragiker pwa_211.022 den aus der Geschichte oder dem Epos wohlbekannten Stoff pwa_211.023 nun nach den Anforderungen seiner Kunst gestaltet, wie er ihn dramatisch pwa_211.024 belebt habe. Ein für gesunden Kunstgenuss eingerichtetes pwa_211.025 Volk empfindet keine Langeweile dabei, denselben epischen Stoff, ja pwa_211.026 dasselbe epische Lied immer von Neuem zu vernehmen: da ist Langeweile pwa_211.027 noch weniger zu befürchten, wenn nun der Dichter den epischen pwa_211.028 Stoff in so idealischer Weise und so in Beziehung auf die heiligsten pwa_211.029 Regungen des menschlichen Gemüthes auffasst, wie das in der Tragödie pwa_211.030 der Fall ist. Die Athener waren sonst in vielen Stücken novarum pwa_211.031 rerum studiosi: aber auf ihrer tragischen Bühne verlangten sie pwa_211.032 keine Neuigkeiten; es ermüdete sie nicht, einen alten historischen pwa_211.033 Stoff, den sie schon aus der Volkssage und aus der epischen Poesie pwa_211.034 her kannten, nun auch von Aeschylus im Gewande der Tragödie dargestellt pwa_211.035 zu sehen, und dann wieder von Sophocles, und dann noch pwa_211.036 einmal von Euripides. Ja es ermüdete sie nicht und benahm ihnen pwa_211.037 nichts von ihrem lebendigen künstlerischen Interesse, wenn Euripides pwa_211.038 seinen Tragödien Prologe vorausschickte, in welchen Alles schon zum pwa_211.039 voraus durch eine kurze Erzählung berichtet ward, was nachher in pwa_211.040 ausgeführter dramatischer Handlung nach und nach sollte entwickelt pwa_211.041 werden. Hätte dergleichen das Interesse der Athener nicht vielmehr
pwa_211.001 versichert, sowie es historisch oder sagenhaft berühmte Namen sind, pwa_211.002 die er zu Trägern seiner Handlung erwählt. Mit Recht bemerkt Jean pwa_211.003 Paul (Vorschul. S. 500): „Ein bekannt-historischer Character, z. B. pwa_211.004 Socrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und pwa_211.005 setzt sein Cognito voraus: ein Name ist hier eine Menge Situationen. pwa_211.006 Hier erschafft schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung.“
pwa_211.007 Man darf dagegen nicht einwerfen, dass das Interesse des Reproducierenden pwa_211.008 viel grösser sein müsse, wenn ihm die Wirklichkeit der pwa_211.009 dramatischen Handlung noch ganz unbekannt sei, wenn also der pwa_211.010 Dichter selbst sie erst erfunden. Dann werde er erst recht mit pwa_211.011 gespannter Erwartung dem weiteren Verlauf und dem letzten Ausgange pwa_211.012 der Handlung nachfolgen und entgegenschauen; viel grösser pwa_211.013 sei alsdann das Interesse, als wenn man schon durch Lesen oder pwa_211.014 Hörensagen Alles zum voraus wisse. Dieser Einwurf hat allerdings pwa_211.015 viel Schein für sich; mehr aber nicht. Der Kunst ist nichts verderblicher pwa_211.016 als solch eine gespannte Erwartung, die der gemeinen Neugierde pwa_211.017 wahrlich um vieles näher liegt als dem eigentlichen künstlerischen pwa_211.018 Interesse. Das wahre Interesse wird weniger nach einzelnen Begebenheiten pwa_211.019 fragen: denn es soll hier ja keine Geschichte erzählt, sondern pwa_211.020 eine dramatische Handlung vorgeführt werden; es wird vielmehr eben pwa_211.021 auf die Handlung achten, d. h. auf die Art und Weise, wie der Tragiker pwa_211.022 den aus der Geschichte oder dem Epos wohlbekannten Stoff pwa_211.023 nun nach den Anforderungen seiner Kunst gestaltet, wie er ihn dramatisch pwa_211.024 belebt habe. Ein für gesunden Kunstgenuss eingerichtetes pwa_211.025 Volk empfindet keine Langeweile dabei, denselben epischen Stoff, ja pwa_211.026 dasselbe epische Lied immer von Neuem zu vernehmen: da ist Langeweile pwa_211.027 noch weniger zu befürchten, wenn nun der Dichter den epischen pwa_211.028 Stoff in so idealischer Weise und so in Beziehung auf die heiligsten pwa_211.029 Regungen des menschlichen Gemüthes auffasst, wie das in der Tragödie pwa_211.030 der Fall ist. Die Athener waren sonst in vielen Stücken novarum pwa_211.031 rerum studiosi: aber auf ihrer tragischen Bühne verlangten sie pwa_211.032 keine Neuigkeiten; es ermüdete sie nicht, einen alten historischen pwa_211.033 Stoff, den sie schon aus der Volkssage und aus der epischen Poesie pwa_211.034 her kannten, nun auch von Aeschylus im Gewande der Tragödie dargestellt pwa_211.035 zu sehen, und dann wieder von Sophocles, und dann noch pwa_211.036 einmal von Euripides. Ja es ermüdete sie nicht und benahm ihnen pwa_211.037 nichts von ihrem lebendigen künstlerischen Interesse, wenn Euripides pwa_211.038 seinen Tragödien Prologe vorausschickte, in welchen Alles schon zum pwa_211.039 voraus durch eine kurze Erzählung berichtet ward, was nachher in pwa_211.040 ausgeführter dramatischer Handlung nach und nach sollte entwickelt pwa_211.041 werden. Hätte dergleichen das Interesse der Athener nicht vielmehr
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/229>, abgerufen am 21.11.2024.
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