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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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versichert, sowie es historisch oder sagenhaft berühmte Namen sind, pwa_211.002
die er zu Trägern seiner Handlung erwählt. Mit Recht bemerkt Jean pwa_211.003
Paul (Vorschul. S. 500): "Ein bekannt-historischer Character, z. B. pwa_211.004
Socrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und pwa_211.005
setzt sein Cognito voraus: ein Name ist hier eine Menge Situationen. pwa_211.006
Hier erschafft schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung."

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Man darf dagegen nicht einwerfen, dass das Interesse des Reproducierenden pwa_211.008
viel grösser sein müsse, wenn ihm die Wirklichkeit der pwa_211.009
dramatischen Handlung noch ganz unbekannt sei, wenn also der pwa_211.010
Dichter selbst sie erst erfunden. Dann werde er erst recht mit pwa_211.011
gespannter Erwartung dem weiteren Verlauf und dem letzten Ausgange pwa_211.012
der Handlung nachfolgen und entgegenschauen; viel grösser pwa_211.013
sei alsdann das Interesse, als wenn man schon durch Lesen oder pwa_211.014
Hörensagen Alles zum voraus wisse. Dieser Einwurf hat allerdings pwa_211.015
viel Schein für sich; mehr aber nicht. Der Kunst ist nichts verderblicher pwa_211.016
als solch eine gespannte Erwartung, die der gemeinen Neugierde pwa_211.017
wahrlich um vieles näher liegt als dem eigentlichen künstlerischen pwa_211.018
Interesse. Das wahre Interesse wird weniger nach einzelnen Begebenheiten pwa_211.019
fragen: denn es soll hier ja keine Geschichte erzählt, sondern pwa_211.020
eine dramatische Handlung vorgeführt werden; es wird vielmehr eben pwa_211.021
auf die Handlung achten, d. h. auf die Art und Weise, wie der Tragiker pwa_211.022
den aus der Geschichte oder dem Epos wohlbekannten Stoff pwa_211.023
nun nach den Anforderungen seiner Kunst gestaltet, wie er ihn dramatisch pwa_211.024
belebt habe. Ein für gesunden Kunstgenuss eingerichtetes pwa_211.025
Volk empfindet keine Langeweile dabei, denselben epischen Stoff, ja pwa_211.026
dasselbe epische Lied immer von Neuem zu vernehmen: da ist Langeweile pwa_211.027
noch weniger zu befürchten, wenn nun der Dichter den epischen pwa_211.028
Stoff in so idealischer Weise und so in Beziehung auf die heiligsten pwa_211.029
Regungen des menschlichen Gemüthes auffasst, wie das in der Tragödie pwa_211.030
der Fall ist. Die Athener waren sonst in vielen Stücken novarum pwa_211.031
rerum studiosi: aber auf ihrer tragischen Bühne verlangten sie pwa_211.032
keine Neuigkeiten; es ermüdete sie nicht, einen alten historischen pwa_211.033
Stoff, den sie schon aus der Volkssage und aus der epischen Poesie pwa_211.034
her kannten, nun auch von Aeschylus im Gewande der Tragödie dargestellt pwa_211.035
zu sehen, und dann wieder von Sophocles, und dann noch pwa_211.036
einmal von Euripides. Ja es ermüdete sie nicht und benahm ihnen pwa_211.037
nichts von ihrem lebendigen künstlerischen Interesse, wenn Euripides pwa_211.038
seinen Tragödien Prologe vorausschickte, in welchen Alles schon zum pwa_211.039
voraus durch eine kurze Erzählung berichtet ward, was nachher in pwa_211.040
ausgeführter dramatischer Handlung nach und nach sollte entwickelt pwa_211.041
werden. Hätte dergleichen das Interesse der Athener nicht vielmehr

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versichert, sowie es historisch oder sagenhaft berühmte Namen sind, pwa_211.002
die er zu Trägern seiner Handlung erwählt. Mit Recht bemerkt Jean pwa_211.003
Paul (Vorschul. S. 500): „Ein bekannt-historischer Character, z. B. pwa_211.004
Socrates, Cäsar, tritt, wenn ihn der Dichter ruft, wie ein Fürst ein und pwa_211.005
setzt sein Cognito voraus: ein Name ist hier eine Menge Situationen. pwa_211.006
Hier erschafft schon ein Mensch Begeisterung oder Erwartung.“

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Man darf dagegen nicht einwerfen, dass das Interesse des Reproducierenden pwa_211.008
viel grösser sein müsse, wenn ihm die Wirklichkeit der pwa_211.009
dramatischen Handlung noch ganz unbekannt sei, wenn also der pwa_211.010
Dichter selbst sie erst erfunden. Dann werde er erst recht mit pwa_211.011
gespannter Erwartung dem weiteren Verlauf und dem letzten Ausgange pwa_211.012
der Handlung nachfolgen und entgegenschauen; viel grösser pwa_211.013
sei alsdann das Interesse, als wenn man schon durch Lesen oder pwa_211.014
Hörensagen Alles zum voraus wisse. Dieser Einwurf hat allerdings pwa_211.015
viel Schein für sich; mehr aber nicht. Der Kunst ist nichts verderblicher pwa_211.016
als solch eine gespannte Erwartung, die der gemeinen Neugierde pwa_211.017
wahrlich um vieles näher liegt als dem eigentlichen künstlerischen pwa_211.018
Interesse. Das wahre Interesse wird weniger nach einzelnen Begebenheiten pwa_211.019
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Volk empfindet keine Langeweile dabei, denselben epischen Stoff, ja pwa_211.026
dasselbe epische Lied immer von Neuem zu vernehmen: da ist Langeweile pwa_211.027
noch weniger zu befürchten, wenn nun der Dichter den epischen pwa_211.028
Stoff in so idealischer Weise und so in Beziehung auf die heiligsten pwa_211.029
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rerum studiosi: aber auf ihrer tragischen Bühne verlangten sie pwa_211.032
keine Neuigkeiten; es ermüdete sie nicht, einen alten historischen pwa_211.033
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nichts von ihrem lebendigen künstlerischen Interesse, wenn Euripides pwa_211.038
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/229>, abgerufen am 21.11.2024.