pwa_212.001 noch erhöht, so verstand Euripides seinen Vortheil zu gut, als dass pwa_212.002 er sichs würde zum Gebrauch gemacht haben. Solche historische pwa_212.003 Thatsachen könnten hinreichen, um darzuthun, wie sehr jene Einwendungen pwa_212.004 bloss aus der Luft gegriffen sind. Aber es kommt noch pwa_212.005 etwas dazu, das sie nicht minder genügend widerlegt. Diess nämlich, pwa_212.006 dass sich ja die Tragödie keinesweges in strengstem Gehorsam an das pwa_212.007 historisch Gegebene bindet, keinesweges dem Zuschauer lauter längst pwa_212.008 Bekanntes nur von Neuem darbietet: dass vielmehr der tragische Dichter pwa_212.009 in den meisten Fällen mit dem, was Geschichte und Sage ihm an pwa_212.010 die Hand geben, noch um vieles freier verfährt und verfahren muss, pwa_212.011 als die Sage mit der Geschichte und das Epos mit der Sage verfährt. pwa_212.012 Es geschieht das aber aus einem doppelten Grunde.
pwa_212.013 Erstlich aus demselben, aus welchem auch die Sage an der pwa_212.014 Geschichte ändert: nicht alle Züge, die eine Begebenheit bilden, nicht pwa_212.015 alle Begebenheiten, die eine Handlung bilden könnten, sind der Idee pwa_212.016 angemessen; hier ist dafür zu viel, dort mangelt es wieder: da muss pwa_212.017 denn auch der Tragiker, wie das sagenerzählende Volk und wie der pwa_212.018 Epiker es thut, die Geschichte vom Standpuncte der Idee aus berichtigen. pwa_212.019 Den zweiten Grund und Zweck des freieren Umbildens theilt pwa_212.020 die tragische Poesie nicht so mit der epischen: den hat sie mehr für pwa_212.021 sich. Das Epos nämlich zeigt seine Gestalten mehr von aussen als pwa_212.022 von innen, insofern es eben nur erzählt, was sich an ihnen und mit pwa_212.023 ihnen begeben habe: die Tragödie dagegen, welche die äusseren Begebenheiten pwa_212.024 in den inneren Zuständen zu entwickeln, welche nicht Begebenheiten pwa_212.025 zu erzählen, sondern eine Handlung darzustellen hat, muss pwa_212.026 um vieles mehr auf den Character der einzelnen Personen achten, pwa_212.027 diese Grundlage eben der dramatischen Handlung. Wie oft aber verdeckt pwa_212.028 die Geschichte einen Character; wie oft wird er sich selber pwa_212.029 ungetreu, oder zeigt sich wenigstens nicht in der beständigen Durchsichtigkeit, pwa_212.030 die für die tragische Production und Reproduction unentbehrlich pwa_212.031 ist. Da bleibt denn dem Dichter auch auf dieser Seite wiederum pwa_212.032 nichts Andres übrig als nur getrost zu ändern, fortzulassen, pwa_212.033 einzuschieben, umzugestalten, bis zuletzt die Begebenheiten die geforderte pwa_212.034 characteristische Physiognomie und damit in ihrem zusammenhangenden pwa_212.035 Verlaufe die eigentliche Bedeutung einer Handlung gewinnen.
pwa_212.036 Es ändert also der Tragiker an dem geschichtlich Ueberlieferten pwa_212.037 theils der Idee, theils den Characteren und der Handlung selbst zu pwa_212.038 Liebe. Beispiele giebt die Poesie der alten und der modernen Welt pwa_212.039 zur Genüge. Bei mehr als einer griechischen Tragödie lassen sich pwa_212.040 die selbständigen Abweichungen des Dichters von Mythus und Sage pwa_212.041 nachweisen; ohne dass ein solches Verfahren frei stand, hätten auch
pwa_212.001 noch erhöht, so verstand Euripides seinen Vortheil zu gut, als dass pwa_212.002 er sichs würde zum Gebrauch gemacht haben. Solche historische pwa_212.003 Thatsachen könnten hinreichen, um darzuthun, wie sehr jene Einwendungen pwa_212.004 bloss aus der Luft gegriffen sind. Aber es kommt noch pwa_212.005 etwas dazu, das sie nicht minder genügend widerlegt. Diess nämlich, pwa_212.006 dass sich ja die Tragödie keinesweges in strengstem Gehorsam an das pwa_212.007 historisch Gegebene bindet, keinesweges dem Zuschauer lauter längst pwa_212.008 Bekanntes nur von Neuem darbietet: dass vielmehr der tragische Dichter pwa_212.009 in den meisten Fällen mit dem, was Geschichte und Sage ihm an pwa_212.010 die Hand geben, noch um vieles freier verfährt und verfahren muss, pwa_212.011 als die Sage mit der Geschichte und das Epos mit der Sage verfährt. pwa_212.012 Es geschieht das aber aus einem doppelten Grunde.
pwa_212.013 Erstlich aus demselben, aus welchem auch die Sage an der pwa_212.014 Geschichte ändert: nicht alle Züge, die eine Begebenheit bilden, nicht pwa_212.015 alle Begebenheiten, die eine Handlung bilden könnten, sind der Idee pwa_212.016 angemessen; hier ist dafür zu viel, dort mangelt es wieder: da muss pwa_212.017 denn auch der Tragiker, wie das sagenerzählende Volk und wie der pwa_212.018 Epiker es thut, die Geschichte vom Standpuncte der Idee aus berichtigen. pwa_212.019 Den zweiten Grund und Zweck des freieren Umbildens theilt pwa_212.020 die tragische Poesie nicht so mit der epischen: den hat sie mehr für pwa_212.021 sich. Das Epos nämlich zeigt seine Gestalten mehr von aussen als pwa_212.022 von innen, insofern es eben nur erzählt, was sich an ihnen und mit pwa_212.023 ihnen begeben habe: die Tragödie dagegen, welche die äusseren Begebenheiten pwa_212.024 in den inneren Zuständen zu entwickeln, welche nicht Begebenheiten pwa_212.025 zu erzählen, sondern eine Handlung darzustellen hat, muss pwa_212.026 um vieles mehr auf den Character der einzelnen Personen achten, pwa_212.027 diese Grundlage eben der dramatischen Handlung. Wie oft aber verdeckt pwa_212.028 die Geschichte einen Character; wie oft wird er sich selber pwa_212.029 ungetreu, oder zeigt sich wenigstens nicht in der beständigen Durchsichtigkeit, pwa_212.030 die für die tragische Production und Reproduction unentbehrlich pwa_212.031 ist. Da bleibt denn dem Dichter auch auf dieser Seite wiederum pwa_212.032 nichts Andres übrig als nur getrost zu ändern, fortzulassen, pwa_212.033 einzuschieben, umzugestalten, bis zuletzt die Begebenheiten die geforderte pwa_212.034 characteristische Physiognomie und damit in ihrem zusammenhangenden pwa_212.035 Verlaufe die eigentliche Bedeutung einer Handlung gewinnen.
pwa_212.036 Es ändert also der Tragiker an dem geschichtlich Ueberlieferten pwa_212.037 theils der Idee, theils den Characteren und der Handlung selbst zu pwa_212.038 Liebe. Beispiele giebt die Poesie der alten und der modernen Welt pwa_212.039 zur Genüge. Bei mehr als einer griechischen Tragödie lassen sich pwa_212.040 die selbständigen Abweichungen des Dichters von Mythus und Sage pwa_212.041 nachweisen; ohne dass ein solches Verfahren frei stand, hätten auch
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/230>, abgerufen am 21.11.2024.
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