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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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noch erhöht, so verstand Euripides seinen Vortheil zu gut, als dass pwa_212.002
er sichs würde zum Gebrauch gemacht haben. Solche historische pwa_212.003
Thatsachen könnten hinreichen, um darzuthun, wie sehr jene Einwendungen pwa_212.004
bloss aus der Luft gegriffen sind. Aber es kommt noch pwa_212.005
etwas dazu, das sie nicht minder genügend widerlegt. Diess nämlich, pwa_212.006
dass sich ja die Tragödie keinesweges in strengstem Gehorsam an das pwa_212.007
historisch Gegebene bindet, keinesweges dem Zuschauer lauter längst pwa_212.008
Bekanntes nur von Neuem darbietet: dass vielmehr der tragische Dichter pwa_212.009
in den meisten Fällen mit dem, was Geschichte und Sage ihm an pwa_212.010
die Hand geben, noch um vieles freier verfährt und verfahren muss, pwa_212.011
als die Sage mit der Geschichte und das Epos mit der Sage verfährt. pwa_212.012
Es geschieht das aber aus einem doppelten Grunde.

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Erstlich aus demselben, aus welchem auch die Sage an der pwa_212.014
Geschichte ändert: nicht alle Züge, die eine Begebenheit bilden, nicht pwa_212.015
alle Begebenheiten, die eine Handlung bilden könnten, sind der Idee pwa_212.016
angemessen; hier ist dafür zu viel, dort mangelt es wieder: da muss pwa_212.017
denn auch der Tragiker, wie das sagenerzählende Volk und wie der pwa_212.018
Epiker es thut, die Geschichte vom Standpuncte der Idee aus berichtigen. pwa_212.019
Den zweiten Grund und Zweck des freieren Umbildens theilt pwa_212.020
die tragische Poesie nicht so mit der epischen: den hat sie mehr für pwa_212.021
sich. Das Epos nämlich zeigt seine Gestalten mehr von aussen als pwa_212.022
von innen, insofern es eben nur erzählt, was sich an ihnen und mit pwa_212.023
ihnen begeben habe: die Tragödie dagegen, welche die äusseren Begebenheiten pwa_212.024
in den inneren Zuständen zu entwickeln, welche nicht Begebenheiten pwa_212.025
zu erzählen, sondern eine Handlung darzustellen hat, muss pwa_212.026
um vieles mehr auf den Character der einzelnen Personen achten, pwa_212.027
diese Grundlage eben der dramatischen Handlung. Wie oft aber verdeckt pwa_212.028
die Geschichte einen Character; wie oft wird er sich selber pwa_212.029
ungetreu, oder zeigt sich wenigstens nicht in der beständigen Durchsichtigkeit, pwa_212.030
die für die tragische Production und Reproduction unentbehrlich pwa_212.031
ist. Da bleibt denn dem Dichter auch auf dieser Seite wiederum pwa_212.032
nichts Andres übrig als nur getrost zu ändern, fortzulassen, pwa_212.033
einzuschieben, umzugestalten, bis zuletzt die Begebenheiten die geforderte pwa_212.034
characteristische Physiognomie und damit in ihrem zusammenhangenden pwa_212.035
Verlaufe die eigentliche Bedeutung einer Handlung gewinnen.

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Es ändert also der Tragiker an dem geschichtlich Ueberlieferten pwa_212.037
theils der Idee, theils den Characteren und der Handlung selbst zu pwa_212.038
Liebe. Beispiele giebt die Poesie der alten und der modernen Welt pwa_212.039
zur Genüge. Bei mehr als einer griechischen Tragödie lassen sich pwa_212.040
die selbständigen Abweichungen des Dichters von Mythus und Sage pwa_212.041
nachweisen; ohne dass ein solches Verfahren frei stand, hätten auch

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noch erhöht, so verstand Euripides seinen Vortheil zu gut, als dass pwa_212.002
er sichs würde zum Gebrauch gemacht haben. Solche historische pwa_212.003
Thatsachen könnten hinreichen, um darzuthun, wie sehr jene Einwendungen pwa_212.004
bloss aus der Luft gegriffen sind. Aber es kommt noch pwa_212.005
etwas dazu, das sie nicht minder genügend widerlegt. Diess nämlich, pwa_212.006
dass sich ja die Tragödie keinesweges in strengstem Gehorsam an das pwa_212.007
historisch Gegebene bindet, keinesweges dem Zuschauer lauter längst pwa_212.008
Bekanntes nur von Neuem darbietet: dass vielmehr der tragische Dichter pwa_212.009
in den meisten Fällen mit dem, was Geschichte und Sage ihm an pwa_212.010
die Hand geben, noch um vieles freier verfährt und verfahren muss, pwa_212.011
als die Sage mit der Geschichte und das Epos mit der Sage verfährt. pwa_212.012
Es geschieht das aber aus einem doppelten Grunde.

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Erstlich aus demselben, aus welchem auch die Sage an der pwa_212.014
Geschichte ändert: nicht alle Züge, die eine Begebenheit bilden, nicht pwa_212.015
alle Begebenheiten, die eine Handlung bilden könnten, sind der Idee pwa_212.016
angemessen; hier ist dafür zu viel, dort mangelt es wieder: da muss pwa_212.017
denn auch der Tragiker, wie das sagenerzählende Volk und wie der pwa_212.018
Epiker es thut, die Geschichte vom Standpuncte der Idee aus berichtigen. pwa_212.019
Den zweiten Grund und Zweck des freieren Umbildens theilt pwa_212.020
die tragische Poesie nicht so mit der epischen: den hat sie mehr für pwa_212.021
sich. Das Epos nämlich zeigt seine Gestalten mehr von aussen als pwa_212.022
von innen, insofern es eben nur erzählt, was sich an ihnen und mit pwa_212.023
ihnen begeben habe: die Tragödie dagegen, welche die äusseren Begebenheiten pwa_212.024
in den inneren Zuständen zu entwickeln, welche nicht Begebenheiten pwa_212.025
zu erzählen, sondern eine Handlung darzustellen hat, muss pwa_212.026
um vieles mehr auf den Character der einzelnen Personen achten, pwa_212.027
diese Grundlage eben der dramatischen Handlung. Wie oft aber verdeckt pwa_212.028
die Geschichte einen Character; wie oft wird er sich selber pwa_212.029
ungetreu, oder zeigt sich wenigstens nicht in der beständigen Durchsichtigkeit, pwa_212.030
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ist. Da bleibt denn dem Dichter auch auf dieser Seite wiederum pwa_212.032
nichts Andres übrig als nur getrost zu ändern, fortzulassen, pwa_212.033
einzuschieben, umzugestalten, bis zuletzt die Begebenheiten die geforderte pwa_212.034
characteristische Physiognomie und damit in ihrem zusammenhangenden pwa_212.035
Verlaufe die eigentliche Bedeutung einer Handlung gewinnen.

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Es ändert also der Tragiker an dem geschichtlich Ueberlieferten pwa_212.037
theils der Idee, theils den Characteren und der Handlung selbst zu pwa_212.038
Liebe. Beispiele giebt die Poesie der alten und der modernen Welt pwa_212.039
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/230>, abgerufen am 21.11.2024.