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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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schwerlich Mehrere nach einander einen und denselben Stoff behandeln pwa_213.002
können, wie das doch genugsam vorkommt. Aus unserer Litteratur pwa_213.003
wollen wir nur Göthe und Schiller hervorheben. Von Göthe nächst der pwa_213.004
Iphigenie in Tauris (S. 191) den Egmont. Diese Tragödie widerspricht pwa_213.005
allerdings der wahrhaften Geschichte mannigfach; sie mischt Begebenheiten pwa_213.006
in die Handlung, von welchen dort auch nicht die leiseste Spur pwa_213.007
vorhanden ist, und Begebenheiten solcher Art, dass damit Egmonts pwa_213.008
Character selbst, wie ihn die Geschichte zeigt, könnte angetastet pwa_213.009
erscheinen. So pflegt man das Stück auch wirklich zu beurtheilen; pwa_213.010
und Schiller ist in einer Recension der erste gewesen, der hier das pwa_213.011
Mass der dem Tragiker gestatteten Freiheit hat überschritten gefunden. pwa_213.012
Dem ist aber doch nicht so. Einen andern Character als hier in der pwa_213.013
Tragödie besitzt Egmont auch in der Geschichte nicht: er zeigt auch pwa_213.014
dort ein Gemüth, das allem Edeln geöffnet ist, dem aber keine Kraft pwa_213.015
des Entschliessens und Handelns zur Seite steht; auch dort ein in pwa_213.016
rath- und thatlose Träumerei versunkenes Heldenherz: er zeigt es pwa_213.017
jedoch nicht in der Art und Weise, dass damit ein Dramatiker, ein pwa_213.018
Tragiker hätte etwas beginnen können, und Göthe war in seinem pwa_213.019
vollen Recht, wie er in seiner Pflicht war, als er die Begebenheiten, pwa_213.020
welche die Geschichte erzählt, immerhin mit einer gewissen Kühnheit pwa_213.021
so umgestaltete, dass sich jener Character nun auch in der dramatischen pwa_213.022
Handlung ausprägte. Um vieles mehr hat sich dagegen Schiller pwa_213.023
selbst in einer seiner Tragödien an der historischen Treue verfehlt. pwa_213.024
Ich meine nicht den Wallenstein und die Jungfrau von Orleans, wo pwa_213.025
er nur von seinem Rechte Gebrauch gemacht hat, das Ueberlieferte pwa_213.026
der tragischen Idee und dem gegebenen Character gemäss umzubilden: pwa_213.027
ich meine den Don Carlos. Hier hat er denn freilich nicht, wie er pwa_213.028
und mit ihm Andre das dem Göthischen Egmont ohne Grund vorwerfen, pwa_213.029
einen hohen Character in den Staub gezogen: aber er hat sich das pwa_213.030
Gegentheil erlaubt; er hat eine historische Person, von der die pwa_213.031
Geschichte wahrlich nicht mit sonderlicher Ehre zu sprechen weiss, pwa_213.032
eben den Don Carlos, auf eine solche Höhe edler Gesinnung versetzt, pwa_213.033
dass in der That dieser tragische Carlos mit dem historischen kaum pwa_213.034
mehr gemein hat als den Namen und einige an ihm hangende Begebenheiten, pwa_213.035
den Character aber, für ein Drama die Hauptsache, ganz pwa_213.036
und gar nicht. Durch eine der Wahrheit grade zuwider laufende pwa_213.037
Verherrlichung wird aber die Tragödie ebenso wohl von der Stelle pwa_213.038
gerückt, die sie neben der Geschichte anspricht, als durch Erniedrigung pwa_213.039
und Entwürdigung.

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Den Begebenheiten gegenüber ist der Dichter zu freiem Verfahren pwa_213.041
berechtigt, ja oft verpflichtet: der Character dagegen, die Idee verlangt

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schwerlich Mehrere nach einander einen und denselben Stoff behandeln pwa_213.002
können, wie das doch genugsam vorkommt. Aus unserer Litteratur pwa_213.003
wollen wir nur Göthe und Schiller hervorheben. Von Göthe nächst der pwa_213.004
Iphigenie in Tauris (S. 191) den Egmont. Diese Tragödie widerspricht pwa_213.005
allerdings der wahrhaften Geschichte mannigfach; sie mischt Begebenheiten pwa_213.006
in die Handlung, von welchen dort auch nicht die leiseste Spur pwa_213.007
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Character selbst, wie ihn die Geschichte zeigt, könnte angetastet pwa_213.009
erscheinen. So pflegt man das Stück auch wirklich zu beurtheilen; pwa_213.010
und Schiller ist in einer Recension der erste gewesen, der hier das pwa_213.011
Mass der dem Tragiker gestatteten Freiheit hat überschritten gefunden. pwa_213.012
Dem ist aber doch nicht so. Einen andern Character als hier in der pwa_213.013
Tragödie besitzt Egmont auch in der Geschichte nicht: er zeigt auch pwa_213.014
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des Entschliessens und Handelns zur Seite steht; auch dort ein in pwa_213.016
rath- und thatlose Träumerei versunkenes Heldenherz: er zeigt es pwa_213.017
jedoch nicht in der Art und Weise, dass damit ein Dramatiker, ein pwa_213.018
Tragiker hätte etwas beginnen können, und Göthe war in seinem pwa_213.019
vollen Recht, wie er in seiner Pflicht war, als er die Begebenheiten, pwa_213.020
welche die Geschichte erzählt, immerhin mit einer gewissen Kühnheit pwa_213.021
so umgestaltete, dass sich jener Character nun auch in der dramatischen pwa_213.022
Handlung ausprägte. Um vieles mehr hat sich dagegen Schiller pwa_213.023
selbst in einer seiner Tragödien an der historischen Treue verfehlt. pwa_213.024
Ich meine nicht den Wallenstein und die Jungfrau von Orleans, wo pwa_213.025
er nur von seinem Rechte Gebrauch gemacht hat, das Ueberlieferte pwa_213.026
der tragischen Idee und dem gegebenen Character gemäss umzubilden: pwa_213.027
ich meine den Don Carlos. Hier hat er denn freilich nicht, wie er pwa_213.028
und mit ihm Andre das dem Göthischen Egmont ohne Grund vorwerfen, pwa_213.029
einen hohen Character in den Staub gezogen: aber er hat sich das pwa_213.030
Gegentheil erlaubt; er hat eine historische Person, von der die pwa_213.031
Geschichte wahrlich nicht mit sonderlicher Ehre zu sprechen weiss, pwa_213.032
eben den Don Carlos, auf eine solche Höhe edler Gesinnung versetzt, pwa_213.033
dass in der That dieser tragische Carlos mit dem historischen kaum pwa_213.034
mehr gemein hat als den Namen und einige an ihm hangende Begebenheiten, pwa_213.035
den Character aber, für ein Drama die Hauptsache, ganz pwa_213.036
und gar nicht. Durch eine der Wahrheit grade zuwider laufende pwa_213.037
Verherrlichung wird aber die Tragödie ebenso wohl von der Stelle pwa_213.038
gerückt, die sie neben der Geschichte anspricht, als durch Erniedrigung pwa_213.039
und Entwürdigung.

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Den Begebenheiten gegenüber ist der Dichter zu freiem Verfahren pwa_213.041
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/231>, abgerufen am 21.11.2024.