Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_258.001 pwa_258.012 pwa_258.017 pwa_258.001 pwa_258.012 pwa_258.017 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0276" n="258"/> <p><lb n="pwa_258.001"/> Noch mag, mehr als eine historische Notiz, bemerkt werden, wie <lb n="pwa_258.002"/> man in neuerer Zeit Romane aus mehreren in sich abgeschlossenen, <lb n="pwa_258.003"/> aber unter einander zusammenhangenden Novellen zusammengesetzt <lb n="pwa_258.004"/> hat. Es giebt dergleichen Romane von Steffens, z. B. Die Familien <lb n="pwa_258.005"/> Walseth und Leith (1827) und Die vier Norweger (1828); er hat dafür <lb n="pwa_258.006"/> den Namen <hi rendition="#b">Novellencyclus</hi> erfunden. Da hier das Ganze des Romans <lb n="pwa_258.007"/> aus einer Reihe einzelner Novellen erwächst, so ist damit wenigstens <lb n="pwa_258.008"/> das wieder bestätigt, dass sich die Erzählung oder Novelle vom Roman <lb n="pwa_258.009"/> unterscheide durch ihre Einfachheit oder Kürze, oder mit anderen <lb n="pwa_258.010"/> Worten, dass sich die Novelle zum Roman verhalte, wie die epische <lb n="pwa_258.011"/> Rhapsodie zur Epopöie.</p> <p><lb n="pwa_258.012"/> Nachdem wir so die beiden Hauptarten der erzählenden Prosa, <lb n="pwa_258.013"/> die Prosa der Geschichtsschreibung und die des Romans, für sich und <lb n="pwa_258.014"/> in ihrem Verhältniss unter einander und zur Epik betrachtet haben, <lb n="pwa_258.015"/> ist noch von zwei Abarten derselben zu reden, vom Gespräch und <lb n="pwa_258.016"/> von der Beschreibung.</p> <p><lb n="pwa_258.017"/> Was nun zuerst das <hi rendition="#b">Gespräch</hi> betrifft, so haben wir bereits vorher <lb n="pwa_258.018"/> bei Betrachtung des Romans gesehen, dass dieser es liebe, bei einzelnen <lb n="pwa_258.019"/> epischen Situationen in lyrischer Weise zu verweilen und die <lb n="pwa_258.020"/> von irgend einer Thatsache angeregten inneren Zustände in dialogischer <lb n="pwa_258.021"/> Form zu entwickeln. Greift man nun eine solche Situation ganz <lb n="pwa_258.022"/> vereinzelt auf und baut auf sie in dieser Vereinzelung einen Dialog, <lb n="pwa_258.023"/> so dass die Situation nur noch aus diesem Gespräch zu erkennen, <lb n="pwa_258.024"/> selbst aber nicht eigentlich erzählt ist, so entsteht daraus, was man <lb n="pwa_258.025"/> vorzugsweise Gespräch nennt. Dergleichen lässt sich mit der lyrischen <lb n="pwa_258.026"/> Epik zusammenstellen. Als wir von dieser, von Ballade und Romanze <lb n="pwa_258.027"/> sprachen (S. 62. 94 fg.), haben wir in der Poesie mehrerer Völker genug <lb n="pwa_258.028"/> Dichtungen angetroffen, die weiter nichts sind als Dialoge, ruhend auf dem <lb n="pwa_258.029"/> Hintergrunde einer einfachen und bloss durch das Zwiegespräch angedeuteten <lb n="pwa_258.030"/> epischen Situation. Wenn die prosaischen Gespräche gewöhnlich <lb n="pwa_258.031"/> etwas länger und breiter ausgeführt sind, so ist das eine mehr zufällige <lb n="pwa_258.032"/> Folge der äusseren Form. Als Erfinder dieser Nebenart von <lb n="pwa_258.033"/> poetischer Prosa ist wahrscheinlich Lucian zu bezeichnen; in seinen <lb n="pwa_258.034"/> Gesprächen bringt er theils göttliche Wesen zusammen, theils, indem <lb n="pwa_258.035"/> er sie in die Unterwelt verlegt, historische Personen, die im Leben <lb n="pwa_258.036"/> nicht wohl hätten mit einander sprechen können, weil sie ganz verschiedenen <lb n="pwa_258.037"/> Völkern oder gar auch verschiedenen Zeiträumen der <lb n="pwa_258.038"/> Geschichte angehören. Namentlich in diesen Todtengesprächen giebt <lb n="pwa_258.039"/> ihm die Wechselbeziehung, in welche die beiden Redenden durch ihre <lb n="pwa_258.040"/> Reden kommen, oft das beste Mittel an die Hand zu einer anschaulichen <lb n="pwa_258.041"/> Entwickelung ihrer Charaktere. In neuerer Zeit ist Lucian von </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [258/0276]
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Noch mag, mehr als eine historische Notiz, bemerkt werden, wie pwa_258.002
man in neuerer Zeit Romane aus mehreren in sich abgeschlossenen, pwa_258.003
aber unter einander zusammenhangenden Novellen zusammengesetzt pwa_258.004
hat. Es giebt dergleichen Romane von Steffens, z. B. Die Familien pwa_258.005
Walseth und Leith (1827) und Die vier Norweger (1828); er hat dafür pwa_258.006
den Namen Novellencyclus erfunden. Da hier das Ganze des Romans pwa_258.007
aus einer Reihe einzelner Novellen erwächst, so ist damit wenigstens pwa_258.008
das wieder bestätigt, dass sich die Erzählung oder Novelle vom Roman pwa_258.009
unterscheide durch ihre Einfachheit oder Kürze, oder mit anderen pwa_258.010
Worten, dass sich die Novelle zum Roman verhalte, wie die epische pwa_258.011
Rhapsodie zur Epopöie.
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Nachdem wir so die beiden Hauptarten der erzählenden Prosa, pwa_258.013
die Prosa der Geschichtsschreibung und die des Romans, für sich und pwa_258.014
in ihrem Verhältniss unter einander und zur Epik betrachtet haben, pwa_258.015
ist noch von zwei Abarten derselben zu reden, vom Gespräch und pwa_258.016
von der Beschreibung.
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Was nun zuerst das Gespräch betrifft, so haben wir bereits vorher pwa_258.018
bei Betrachtung des Romans gesehen, dass dieser es liebe, bei einzelnen pwa_258.019
epischen Situationen in lyrischer Weise zu verweilen und die pwa_258.020
von irgend einer Thatsache angeregten inneren Zustände in dialogischer pwa_258.021
Form zu entwickeln. Greift man nun eine solche Situation ganz pwa_258.022
vereinzelt auf und baut auf sie in dieser Vereinzelung einen Dialog, pwa_258.023
so dass die Situation nur noch aus diesem Gespräch zu erkennen, pwa_258.024
selbst aber nicht eigentlich erzählt ist, so entsteht daraus, was man pwa_258.025
vorzugsweise Gespräch nennt. Dergleichen lässt sich mit der lyrischen pwa_258.026
Epik zusammenstellen. Als wir von dieser, von Ballade und Romanze pwa_258.027
sprachen (S. 62. 94 fg.), haben wir in der Poesie mehrerer Völker genug pwa_258.028
Dichtungen angetroffen, die weiter nichts sind als Dialoge, ruhend auf dem pwa_258.029
Hintergrunde einer einfachen und bloss durch das Zwiegespräch angedeuteten pwa_258.030
epischen Situation. Wenn die prosaischen Gespräche gewöhnlich pwa_258.031
etwas länger und breiter ausgeführt sind, so ist das eine mehr zufällige pwa_258.032
Folge der äusseren Form. Als Erfinder dieser Nebenart von pwa_258.033
poetischer Prosa ist wahrscheinlich Lucian zu bezeichnen; in seinen pwa_258.034
Gesprächen bringt er theils göttliche Wesen zusammen, theils, indem pwa_258.035
er sie in die Unterwelt verlegt, historische Personen, die im Leben pwa_258.036
nicht wohl hätten mit einander sprechen können, weil sie ganz verschiedenen pwa_258.037
Völkern oder gar auch verschiedenen Zeiträumen der pwa_258.038
Geschichte angehören. Namentlich in diesen Todtengesprächen giebt pwa_258.039
ihm die Wechselbeziehung, in welche die beiden Redenden durch ihre pwa_258.040
Reden kommen, oft das beste Mittel an die Hand zu einer anschaulichen pwa_258.041
Entwickelung ihrer Charaktere. In neuerer Zeit ist Lucian von
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