Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_294.001 pwa_294.009 pwa_294.032 pwa_294.001 pwa_294.009 pwa_294.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0312" n="294"/><lb n="pwa_294.001"/> Theile der Verstand, im dritten Einbildung und Gefühl vorwalten, so <lb n="pwa_294.002"/> wirken im Exordium alle drei Kräfte neben einander. Es ist demnach <lb n="pwa_294.003"/> mit Vielem, was über das Exordium gesagt worden, inclusive zugleich <lb n="pwa_294.004"/> von der ganzen Rede gehandelt, so dass wir uns von nun an ganz <lb n="pwa_294.005"/> wohl kürzer fassen können. Auch gehn in den beiden andern Theilen <lb n="pwa_294.006"/> die weltliche und die geistliche Redekunst, wenn schon beträchtlich <lb n="pwa_294.007"/> genug, nicht in so mannigfacher Weise auseinander, wie das im Exordium <lb n="pwa_294.008"/> stattfindet.</p> <p><lb n="pwa_294.009"/> Der zweite Theil, die <hi rendition="#b">disputatio.</hi> Die weltliche Redekunst liebt <lb n="pwa_294.010"/> es vom ersten zum zweiten Theile fast unmerklich und mit freier Leichtigkeit <lb n="pwa_294.011"/> überzugehn, so dass der Schluss des ersten und der Anfang <lb n="pwa_294.012"/> des zweiten ganz wohl in Einen Satz zusammenfliessen können. Die <lb n="pwa_294.013"/> geistliche Redekunst pflegt den Abschnitt nicht bloss durch die ihr <lb n="pwa_294.014"/> eigenthümliche Einrichtung des Eingangs, sondern hie und da sogar <lb n="pwa_294.015"/> durch eine Pause nach demselben zu bezeichnen, durch ein wirkliches <lb n="pwa_294.016"/> Innehalten, das bald von kürzerer, bald von längerer Dauer ist; nach <lb n="pwa_294.017"/> einer in Deutschland weit verbreiteten Uebung unterbricht hier sogar <lb n="pwa_294.018"/> die Gemeinde den Gang der Predigt durch ihren Gesang. Mithin <lb n="pwa_294.019"/> weicht die geistliche Redekunst schon beim ersten Beginn der disputatio <lb n="pwa_294.020"/> von der weltlichen ab, und ebenso pflegt sie denn auch in der <lb n="pwa_294.021"/> ganzen weiteren Behandlung derselben ihren eigenen Weg einzuschlagen, <lb n="pwa_294.022"/> der leider auch hier oft der minder künstlerische ist. Wir sehen <lb n="pwa_294.023"/> dabei ganz ab von der Homilie, die gar kein irgendwie systematisches <lb n="pwa_294.024"/> Verfahren beobachtet, die nach der Verlesung des Textes alsbald übergeht <lb n="pwa_294.025"/> zu einer blossen erbaulichen Auslegung desselben und die Reihe <lb n="pwa_294.026"/> der darin enthaltenen vereinzelten Gedanken in ihrer Vereinzelung <lb n="pwa_294.027"/> verfolgt, ohne sie ausdrücklich und ausgesprochener Massen unter einen <lb n="pwa_294.028"/> gemeinsamen Hauptgedanken zusammenzufassen. Wir sehen von der <lb n="pwa_294.029"/> Homilie ab und sprechen, wo wir ferner noch die geistliche Redekunst <lb n="pwa_294.030"/> mit der weltlichen vergleichen, nur von der Predigt im engeren Sinne <lb n="pwa_294.031"/> des Wortes.</p> <p><lb n="pwa_294.032"/> Die Bestimmung des zweiten Haupttheils ist in geistlichen oder <lb n="pwa_294.033"/> in weltlichen Reden überall die gleiche: die verschiedenen Benennungen, <lb n="pwa_294.034"/> welche die Rhetorik diesem Theile giebt, sprechen sie jede ziemlich <lb n="pwa_294.035"/> genügend aus. Er heisst die <hi rendition="#i">disputatio:</hi> denn es wird hier die aufgestellte <lb n="pwa_294.036"/> Wahrheit darum so erschöpfend durchgesprochen, weil der <lb n="pwa_294.037"/> Redner sie zu behaupten und zu verfechten hat entweder gegen eine <lb n="pwa_294.038"/> wirklich und ausdrücklich entgegengesetzte, ja ihm feindselige Meinung, <lb n="pwa_294.039"/> wie das in der weltlichen Redekunst gewöhnlich der Fall ist, <lb n="pwa_294.040"/> oder weil er, wie die geistlichen Redner, allem Zweifel an der Wahrheit <lb n="pwa_294.041"/> und aller Verneinung derselben wenigstens vorbeugen muss. Es </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [294/0312]
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Theile der Verstand, im dritten Einbildung und Gefühl vorwalten, so pwa_294.002
wirken im Exordium alle drei Kräfte neben einander. Es ist demnach pwa_294.003
mit Vielem, was über das Exordium gesagt worden, inclusive zugleich pwa_294.004
von der ganzen Rede gehandelt, so dass wir uns von nun an ganz pwa_294.005
wohl kürzer fassen können. Auch gehn in den beiden andern Theilen pwa_294.006
die weltliche und die geistliche Redekunst, wenn schon beträchtlich pwa_294.007
genug, nicht in so mannigfacher Weise auseinander, wie das im Exordium pwa_294.008
stattfindet.
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Der zweite Theil, die disputatio. Die weltliche Redekunst liebt pwa_294.010
es vom ersten zum zweiten Theile fast unmerklich und mit freier Leichtigkeit pwa_294.011
überzugehn, so dass der Schluss des ersten und der Anfang pwa_294.012
des zweiten ganz wohl in Einen Satz zusammenfliessen können. Die pwa_294.013
geistliche Redekunst pflegt den Abschnitt nicht bloss durch die ihr pwa_294.014
eigenthümliche Einrichtung des Eingangs, sondern hie und da sogar pwa_294.015
durch eine Pause nach demselben zu bezeichnen, durch ein wirkliches pwa_294.016
Innehalten, das bald von kürzerer, bald von längerer Dauer ist; nach pwa_294.017
einer in Deutschland weit verbreiteten Uebung unterbricht hier sogar pwa_294.018
die Gemeinde den Gang der Predigt durch ihren Gesang. Mithin pwa_294.019
weicht die geistliche Redekunst schon beim ersten Beginn der disputatio pwa_294.020
von der weltlichen ab, und ebenso pflegt sie denn auch in der pwa_294.021
ganzen weiteren Behandlung derselben ihren eigenen Weg einzuschlagen, pwa_294.022
der leider auch hier oft der minder künstlerische ist. Wir sehen pwa_294.023
dabei ganz ab von der Homilie, die gar kein irgendwie systematisches pwa_294.024
Verfahren beobachtet, die nach der Verlesung des Textes alsbald übergeht pwa_294.025
zu einer blossen erbaulichen Auslegung desselben und die Reihe pwa_294.026
der darin enthaltenen vereinzelten Gedanken in ihrer Vereinzelung pwa_294.027
verfolgt, ohne sie ausdrücklich und ausgesprochener Massen unter einen pwa_294.028
gemeinsamen Hauptgedanken zusammenzufassen. Wir sehen von der pwa_294.029
Homilie ab und sprechen, wo wir ferner noch die geistliche Redekunst pwa_294.030
mit der weltlichen vergleichen, nur von der Predigt im engeren Sinne pwa_294.031
des Wortes.
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Die Bestimmung des zweiten Haupttheils ist in geistlichen oder pwa_294.033
in weltlichen Reden überall die gleiche: die verschiedenen Benennungen, pwa_294.034
welche die Rhetorik diesem Theile giebt, sprechen sie jede ziemlich pwa_294.035
genügend aus. Er heisst die disputatio: denn es wird hier die aufgestellte pwa_294.036
Wahrheit darum so erschöpfend durchgesprochen, weil der pwa_294.037
Redner sie zu behaupten und zu verfechten hat entweder gegen eine pwa_294.038
wirklich und ausdrücklich entgegengesetzte, ja ihm feindselige Meinung, pwa_294.039
wie das in der weltlichen Redekunst gewöhnlich der Fall ist, pwa_294.040
oder weil er, wie die geistlichen Redner, allem Zweifel an der Wahrheit pwa_294.041
und aller Verneinung derselben wenigstens vorbeugen muss. Es
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