Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_342.001 pwa_342.018 pwa_342.038 pwa_342.001 pwa_342.018 pwa_342.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0360" n="342"/><lb n="pwa_342.001"/> Bedeutung zu verstehn. Auch aus diesem Grunde ist die Verdeutschung <lb n="pwa_342.002"/> abstracter Fremdworte bedenklich: denn, wie schon bemerkt <lb n="pwa_342.003"/> worden, jedes dafür neu erfundene deutsche Wort wird noch zu concret <lb n="pwa_342.004"/> sein, wird noch zu sehr nach blosser Sinnbildlichkeit aussehen, wird <lb n="pwa_342.005"/> zu viel Uneigentlichkeit besitzen, als dass es sich recht mit dem <lb n="pwa_342.006"/> Character der lehrhaften Prosa vertrüge. Freilich beruhen alle <lb n="pwa_342.007"/> abstracten, auch die abstracten deutschen Worte ursprünglich auf rein <lb n="pwa_342.008"/> sinnlichen Anschauungen; aber für die Prosa sind sie doch erst recht <lb n="pwa_342.009"/> tauglich geworden, seitdem man diese Sinnlichkeit nicht mehr an ihnen <lb n="pwa_342.010"/> gewahrt, seit sie nicht mehr bildlich und uneigentlich, sondern die <lb n="pwa_342.011"/> recht eigentlichen Ausdrücke zu sein scheinen. Soll man aber in Bezug <lb n="pwa_342.012"/> auf Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit der Ausdrücke etwa einen Unterschied <lb n="pwa_342.013"/> machen zwischen den drei Arten der Prosa, so möchte es der <lb n="pwa_342.014"/> historischen noch am ehesten gestattet sein, die unbelebten und unanschaulichen <lb n="pwa_342.015"/> abstracten Ausdrücke gegen anschaulichere, sinnbildliche <lb n="pwa_342.016"/> concreta zu vertauschen: aber auch nur ihr, ihr als der Grenznachbarin <lb n="pwa_342.017"/> der Poesie, der Epik.</p> <p><lb n="pwa_342.018"/> Ein zweiter Fehler ist die <hi rendition="#b">Katachrese</hi> (<foreign xml:lang="grc">κατάχρησις</foreign>), d. h. Missbrauch. <lb n="pwa_342.019"/> Der Anlass für ihn liegt darin, dass die ursprünglich nur <lb n="pwa_342.020"/> bildlichen Ausdrücke, sowie sie einmal erst recht in Umlauf gekommen <lb n="pwa_342.021"/> sind, sich immer mehr und mehr abschleifen und entfärben, bis <lb n="pwa_342.022"/> man zuletzt kaum mehr auf ihre frühere sinnliche Bedeutung achtet. <lb n="pwa_342.023"/> Es ist nämlich eine Katachrese, wenn man einen bildlichen Ausdruck <lb n="pwa_342.024"/> in einer Verbindung mit anderen Worten anwendet, die nicht zu dem <lb n="pwa_342.025"/> Bilde stimmen, ja die demselben vielleicht widersprechen und es durch <lb n="pwa_342.026"/> unharmonische, neue Bildlichkeiten aufheben. Zwar macht sich die <lb n="pwa_342.027"/> Prosa nichts aus Bildern, und sie duldet sie eigentlich erst dann, wenn <lb n="pwa_342.028"/> sie zu blossen Rahmen geworden sind; aber sie will dieselben auch so <lb n="pwa_342.029"/> nicht missbraucht und misshandelt wissen. Eine Katachrese ist es, <lb n="pwa_342.030"/> wenn z. B. Adelung in seinem Werke „Ueber den deutschen Stil“ <lb n="pwa_342.031"/> sagt: „Daher erscheint in einem heftigen Affecte so Vieles abgebrochen; <lb n="pwa_342.032"/> daher fehlen hier die gewöhnlichen Verbindungswörter, und dort werden <lb n="pwa_342.033"/> sie wieder gehäuft, wo nämlich ein Schimmer des Verstandes den <lb n="pwa_342.034"/> raschen Gang der Ideen aufhalten und ein besonderes Gewicht auf <lb n="pwa_342.035"/> diese oder jene legen will.“ Oder an einer anderen Stelle: „Das <lb n="pwa_342.036"/> Kriechende findet nur dann statt, wenn der Ton unter den Horizont <lb n="pwa_342.037"/> der jedesmaligen Absicht hinabsinkt.“</p> <p><lb n="pwa_342.038"/> Sodann drittens. Alle Sprachen besitzen sogenannte verba oder <lb n="pwa_342.039"/> <hi rendition="#b">vocabula solennia,</hi> Redensarten, die sich für gewisse Vorstellungen <lb n="pwa_342.040"/> festgesetzt haben und da entweder nur vorzugsweise gelten oder ganz <lb n="pwa_342.041"/> ausschliesslich und allein. Mögen nun dergleichen Festsetzungen ihren </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [342/0360]
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Bedeutung zu verstehn. Auch aus diesem Grunde ist die Verdeutschung pwa_342.002
abstracter Fremdworte bedenklich: denn, wie schon bemerkt pwa_342.003
worden, jedes dafür neu erfundene deutsche Wort wird noch zu concret pwa_342.004
sein, wird noch zu sehr nach blosser Sinnbildlichkeit aussehen, wird pwa_342.005
zu viel Uneigentlichkeit besitzen, als dass es sich recht mit dem pwa_342.006
Character der lehrhaften Prosa vertrüge. Freilich beruhen alle pwa_342.007
abstracten, auch die abstracten deutschen Worte ursprünglich auf rein pwa_342.008
sinnlichen Anschauungen; aber für die Prosa sind sie doch erst recht pwa_342.009
tauglich geworden, seitdem man diese Sinnlichkeit nicht mehr an ihnen pwa_342.010
gewahrt, seit sie nicht mehr bildlich und uneigentlich, sondern die pwa_342.011
recht eigentlichen Ausdrücke zu sein scheinen. Soll man aber in Bezug pwa_342.012
auf Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit der Ausdrücke etwa einen Unterschied pwa_342.013
machen zwischen den drei Arten der Prosa, so möchte es der pwa_342.014
historischen noch am ehesten gestattet sein, die unbelebten und unanschaulichen pwa_342.015
abstracten Ausdrücke gegen anschaulichere, sinnbildliche pwa_342.016
concreta zu vertauschen: aber auch nur ihr, ihr als der Grenznachbarin pwa_342.017
der Poesie, der Epik.
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Ein zweiter Fehler ist die Katachrese (κατάχρησις), d. h. Missbrauch. pwa_342.019
Der Anlass für ihn liegt darin, dass die ursprünglich nur pwa_342.020
bildlichen Ausdrücke, sowie sie einmal erst recht in Umlauf gekommen pwa_342.021
sind, sich immer mehr und mehr abschleifen und entfärben, bis pwa_342.022
man zuletzt kaum mehr auf ihre frühere sinnliche Bedeutung achtet. pwa_342.023
Es ist nämlich eine Katachrese, wenn man einen bildlichen Ausdruck pwa_342.024
in einer Verbindung mit anderen Worten anwendet, die nicht zu dem pwa_342.025
Bilde stimmen, ja die demselben vielleicht widersprechen und es durch pwa_342.026
unharmonische, neue Bildlichkeiten aufheben. Zwar macht sich die pwa_342.027
Prosa nichts aus Bildern, und sie duldet sie eigentlich erst dann, wenn pwa_342.028
sie zu blossen Rahmen geworden sind; aber sie will dieselben auch so pwa_342.029
nicht missbraucht und misshandelt wissen. Eine Katachrese ist es, pwa_342.030
wenn z. B. Adelung in seinem Werke „Ueber den deutschen Stil“ pwa_342.031
sagt: „Daher erscheint in einem heftigen Affecte so Vieles abgebrochen; pwa_342.032
daher fehlen hier die gewöhnlichen Verbindungswörter, und dort werden pwa_342.033
sie wieder gehäuft, wo nämlich ein Schimmer des Verstandes den pwa_342.034
raschen Gang der Ideen aufhalten und ein besonderes Gewicht auf pwa_342.035
diese oder jene legen will.“ Oder an einer anderen Stelle: „Das pwa_342.036
Kriechende findet nur dann statt, wenn der Ton unter den Horizont pwa_342.037
der jedesmaligen Absicht hinabsinkt.“
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Sodann drittens. Alle Sprachen besitzen sogenannte verba oder pwa_342.039
vocabula solennia, Redensarten, die sich für gewisse Vorstellungen pwa_342.040
festgesetzt haben und da entweder nur vorzugsweise gelten oder ganz pwa_342.041
ausschliesslich und allein. Mögen nun dergleichen Festsetzungen ihren
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