Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_433.001 pwa_433.003 pwa_433.005 pwa_433.028 pwa_433.001 pwa_433.003 pwa_433.005 pwa_433.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0451" n="433"/><lb n="pwa_433.001"/> wieder enteilen, Bald, o wie kühn in dem Schwung! der Hexameter <lb n="pwa_433.002"/> immer sich selbst gleich.“</p> <p><lb n="pwa_433.003"/> So viel von dem rhythmischen Bau der poetischen Rede und dem darauf <lb n="pwa_433.004"/> beruhenden Wohlklang. Jetzt ist noch vom <hi rendition="#b">Wohllaut</hi> zu sprechen.</p> <p><lb n="pwa_433.005"/> Der Wohllaut wird auf positivem und negativem Wege erzielt. <lb n="pwa_433.006"/> Der letztere besteht in der <hi rendition="#b">Vermeidung des Misslautes.</hi> Die allgemeine <lb n="pwa_433.007"/> Regel ist hier, dass die dichterische Rede leicht zu sprechen <lb n="pwa_433.008"/> und leicht zu hören sei. Es dürfen also keine Härten vorkommen, <lb n="pwa_433.009"/> die durch Wegwerfung eines Endconsonanten oder durch Häufung allzuvieler <lb n="pwa_433.010"/> Consonanten entstehn. Ebenso hat man die eintönige Wiederkehr <lb n="pwa_433.011"/> derselben Vocale zu vermeiden und eine mannigfache Mischung zu <lb n="pwa_433.012"/> erstreben. Aber dieses rechte Mass und diese rechte Mischung ist <lb n="pwa_433.013"/> schwer zu treffen und nur Wenigen gegeben. Nehmen wir z. B. zwei <lb n="pwa_433.014"/> Verskünstler der neuern Zeit, Voss und A. W. von Schlegel, so zeigt <lb n="pwa_433.015"/> sich gleich, dass Voss in der Behandlung der Vocale ein Meister ist, <lb n="pwa_433.016"/> während die Consonanten bei ihm bei weitem nicht so glücklich <lb n="pwa_433.017"/> gemischt sind. Umgekehrt verhält es sich mit Schlegel: so weich <lb n="pwa_433.018"/> und gefüge er in den Consonanten ist, so eintönig ist er, was die <lb n="pwa_433.019"/> Vocale betrifft. Die Vermeidung des Misslautes zeigt sich hauptsächlich <lb n="pwa_433.020"/> gegenüber dem sogenannten <hi rendition="#b">Hiatus,</hi> d. h. dem Zusammentreffen <lb n="pwa_433.021"/> zweier Worte, von denen das eine mit einem Vocal <lb n="pwa_433.022"/> schliesst, das andre mit einem Vocal beginnt. Er hat seinen Namen <lb n="pwa_433.023"/> davon, dass beim Uebergang von einem vocalisch schliessenden Worte <lb n="pwa_433.024"/> zu einem vocalisch anhebenden der Mund offen stehn bleibt. Das <lb n="pwa_433.025"/> Zusammentreffen von Vocalen innerhalb eines und desselben Wortes <lb n="pwa_433.026"/> gilt nicht als Hiatus: den Griechen erschienen dergleichen Worte, wie <lb n="pwa_433.027"/> z. B. <foreign xml:lang="grc">ἰάομαι, ἑώϊος, ἀοιδιάουσα</foreign>, eher wohllautend als misslautend.</p> <p><lb n="pwa_433.028"/> Die Griechen und Römer tilgten den Hiatus durch eine <hi rendition="#i">Apocope</hi> <lb n="pwa_433.029"/> des einen der zusammentreffenden Vocale oder durch eine <hi rendition="#i">Synaloephe</hi> <lb n="pwa_433.030"/> (Verschleifung) beider zu einem Mischlaut, und diess Verfahren galt <lb n="pwa_433.031"/> nicht nur in Versen, sondern auch in Prosa, ja in der Alltagssprache. <lb n="pwa_433.032"/> Die deutsche und die romanischen Sprachen sind in der Tilgung des <lb n="pwa_433.033"/> Hiatus weniger streng; sie kennen die Apocope nur in der Poesie, in <lb n="pwa_433.034"/> der prosaischen Rede wird der Hiatus nicht beseitigt, da er hier nicht <lb n="pwa_433.035"/> als fehlerhaft gilt. Im Deutschen gelten für die Tilgung des Hiatus <lb n="pwa_433.036"/> durch Apocope folgende Regeln, die aus dem Gebrauche der guten <lb n="pwa_433.037"/> Dichter entnommen sind. Das erste Wort muss mit einem stummen <hi rendition="#i">e</hi> <lb n="pwa_433.038"/> schliessen, und dieses muss tonlos sein; sobald es einen auch nur <lb n="pwa_433.039"/> schwächern Accent hat, ist die Tilgung nicht gestattet: man darf also <lb n="pwa_433.040"/> wohl sagen: „Wandl' in Frieden, zittr' aus Furcht,“ nicht aber „wandel' <lb n="pwa_433.041"/> in Frieden, zitter' aus Furcht,“ weil das hier apocopierte <hi rendition="#i">e</hi> nicht tonlos, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [433/0451]
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wieder enteilen, Bald, o wie kühn in dem Schwung! der Hexameter pwa_433.002
immer sich selbst gleich.“
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So viel von dem rhythmischen Bau der poetischen Rede und dem darauf pwa_433.004
beruhenden Wohlklang. Jetzt ist noch vom Wohllaut zu sprechen.
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Der Wohllaut wird auf positivem und negativem Wege erzielt. pwa_433.006
Der letztere besteht in der Vermeidung des Misslautes. Die allgemeine pwa_433.007
Regel ist hier, dass die dichterische Rede leicht zu sprechen pwa_433.008
und leicht zu hören sei. Es dürfen also keine Härten vorkommen, pwa_433.009
die durch Wegwerfung eines Endconsonanten oder durch Häufung allzuvieler pwa_433.010
Consonanten entstehn. Ebenso hat man die eintönige Wiederkehr pwa_433.011
derselben Vocale zu vermeiden und eine mannigfache Mischung zu pwa_433.012
erstreben. Aber dieses rechte Mass und diese rechte Mischung ist pwa_433.013
schwer zu treffen und nur Wenigen gegeben. Nehmen wir z. B. zwei pwa_433.014
Verskünstler der neuern Zeit, Voss und A. W. von Schlegel, so zeigt pwa_433.015
sich gleich, dass Voss in der Behandlung der Vocale ein Meister ist, pwa_433.016
während die Consonanten bei ihm bei weitem nicht so glücklich pwa_433.017
gemischt sind. Umgekehrt verhält es sich mit Schlegel: so weich pwa_433.018
und gefüge er in den Consonanten ist, so eintönig ist er, was die pwa_433.019
Vocale betrifft. Die Vermeidung des Misslautes zeigt sich hauptsächlich pwa_433.020
gegenüber dem sogenannten Hiatus, d. h. dem Zusammentreffen pwa_433.021
zweier Worte, von denen das eine mit einem Vocal pwa_433.022
schliesst, das andre mit einem Vocal beginnt. Er hat seinen Namen pwa_433.023
davon, dass beim Uebergang von einem vocalisch schliessenden Worte pwa_433.024
zu einem vocalisch anhebenden der Mund offen stehn bleibt. Das pwa_433.025
Zusammentreffen von Vocalen innerhalb eines und desselben Wortes pwa_433.026
gilt nicht als Hiatus: den Griechen erschienen dergleichen Worte, wie pwa_433.027
z. B. ἰάομαι, ἑώϊος, ἀοιδιάουσα, eher wohllautend als misslautend.
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Die Griechen und Römer tilgten den Hiatus durch eine Apocope pwa_433.029
des einen der zusammentreffenden Vocale oder durch eine Synaloephe pwa_433.030
(Verschleifung) beider zu einem Mischlaut, und diess Verfahren galt pwa_433.031
nicht nur in Versen, sondern auch in Prosa, ja in der Alltagssprache. pwa_433.032
Die deutsche und die romanischen Sprachen sind in der Tilgung des pwa_433.033
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der prosaischen Rede wird der Hiatus nicht beseitigt, da er hier nicht pwa_433.035
als fehlerhaft gilt. Im Deutschen gelten für die Tilgung des Hiatus pwa_433.036
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schliessen, und dieses muss tonlos sein; sobald es einen auch nur pwa_433.039
schwächern Accent hat, ist die Tilgung nicht gestattet: man darf also pwa_433.040
wohl sagen: „Wandl' in Frieden, zittr' aus Furcht,“ nicht aber „wandel' pwa_433.041
in Frieden, zitter' aus Furcht,“ weil das hier apocopierte e nicht tonlos,
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