Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_434.001 pwa_434.014 pwa_434.027 pwa_434.032 pwa_434.001 pwa_434.014 pwa_434.027 pwa_434.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0452" n="434"/><lb n="pwa_434.001"/> sondern tieftonig ist: „wándelè in Frieden, zitterè aus Furcht.“ <lb n="pwa_434.002"/> Das zweite Wort muss vocalisch anfangen, aber der Vocal darf nicht <lb n="pwa_434.003"/> betont sein. Hier gilt keine Einschränkung auf das unbetonte <hi rendition="#i">e,</hi> es <lb n="pwa_434.004"/> ist vielmehr jeder Vocal, auch ein langer, zugelassen, wenn er nur <lb n="pwa_434.005"/> unbetont ist. Dergleichen unbetonte Anfangssilben sind die Vorsilben <lb n="pwa_434.006"/> <hi rendition="#i">ent, er, un;</hi> auch einsilbige Worte von proclitischer oder enclitischer <lb n="pwa_434.007"/> Natur wie die Pronomina und die Praepositionen, z. B. <hi rendition="#i">er, ich, in, <lb n="pwa_434.008"/> an, aus</hi> u. s. w. entsprechen der aufgestellten Forderung. Unrichtig <lb n="pwa_434.009"/> wäre also nach dem Gesagten die Apocope: „Es herrsch' Ándacht; <lb n="pwa_434.010"/> der graus' Ánblick.“ In volksmässigen, freier gebauten Versen kann <lb n="pwa_434.011"/> auch vor einem zweisilbigen Worte Apocope eintreten, falls dieses <lb n="pwa_434.012"/> von untergeordneter Bedeutung und in beiden Silben tonlos ist: z. B. <lb n="pwa_434.013"/> „Ich hatt' einen Kameraden“ (Uhland).</p> <p><lb n="pwa_434.014"/> Bei der Tilgung des Schluss-<hi rendition="#i">e</hi> fliesst das so gekürzte Wort mit <lb n="pwa_434.015"/> dem folgenden wie in eins zusammen; es findet nicht bloss Apocope <lb n="pwa_434.016"/> des ersten statt, sondern dieses wird zugleich mit dem zweiten in eins <lb n="pwa_434.017"/> gezogen und verschleift, so dass die beiden Worte wie Silben eines <lb n="pwa_434.018"/> und desselben Wortes erscheinen. Z. B. „Mit deiner Lieb' umgeben; <lb n="pwa_434.019"/> lass eine Weis' erklingen:“ hier folgen <hi rendition="#i">um, er</hi> unmittelbar und ungetrennt <lb n="pwa_434.020"/> auf das <hi rendition="#i">b, s.</hi> Diese Verschleifung ist unmöglich, wenn die <lb n="pwa_434.021"/> Worte durch Interpunction getrennt sind, also eine Pause zwischen <lb n="pwa_434.022"/> beiden eintritt: in diesem Falle wird die Apocope unterlassen. Aus <lb n="pwa_434.023"/> dem gleichen Grunde war nun gar das eine Verkehrtheit, wenn Dichter <lb n="pwa_434.024"/> des siebzehnten Jahrhunderts sogar aus einem Vers in den andern <lb n="pwa_434.025"/> hinein apocopierten und ein <hi rendition="#i">e</hi> am Schluss des ersten Verses wegliessen, <lb n="pwa_434.026"/> weil der zweite vocalisch begann.</p> <p><lb n="pwa_434.027"/> Die bisherigen positiven und negativen Bestimmungen geben nur <lb n="pwa_434.028"/> das Allgemeine; will man sie in das Einzelne hinein anwenden, so <lb n="pwa_434.029"/> erleiden sie mehrfache Beschränkungen. Es kommt namentlich darauf <lb n="pwa_434.030"/> an, welcher Art von Worten das erste Wort angehört, und welcherlei <lb n="pwa_434.031"/> Consonanten dem <hi rendition="#i">e</hi> vorangehn.</p> <p><lb n="pwa_434.032"/> Substantiva können unbedenklich apocopiert werden, wenn dem <lb n="pwa_434.033"/> stummen <hi rendition="#i">e</hi> eine Media, ein <hi rendition="#i">b, d, g, s, w</hi> vorangeht: z. B. „Seine Hab' <lb n="pwa_434.034"/> ist ihm entwandt; Gottes Gnad' und Güte; alle Tag' in Sorg' und <lb n="pwa_434.035"/> Klage; dass auch ein Löw' erschrickt“ u. dgl. Bei der richtigen weichen <lb n="pwa_434.036"/> Aussprache hört man hier, dass ein <hi rendition="#i">e</hi> apocopiert, dass eine Verschleifung <lb n="pwa_434.037"/> eingetreten ist; denn <hi rendition="#i">b, d, g, s, w</hi> sind nur vor Vocalen <lb n="pwa_434.038"/> rein auszusprechen, nicht aber am wirklichen Schluss eines Wortes. <lb n="pwa_434.039"/> Da klingt die Apocope weder wie eine harte Abbrechung, noch ist <lb n="pwa_434.040"/> irgendwie ein Missverständniss möglich. Das ist aber der Fall, wo <lb n="pwa_434.041"/> vor dem tonlosen <hi rendition="#i">e</hi> eine Tenuis, eine Aspirata oder eine Liquida steht: </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [434/0452]
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sondern tieftonig ist: „wándelè in Frieden, zitterè aus Furcht.“ pwa_434.002
Das zweite Wort muss vocalisch anfangen, aber der Vocal darf nicht pwa_434.003
betont sein. Hier gilt keine Einschränkung auf das unbetonte e, es pwa_434.004
ist vielmehr jeder Vocal, auch ein langer, zugelassen, wenn er nur pwa_434.005
unbetont ist. Dergleichen unbetonte Anfangssilben sind die Vorsilben pwa_434.006
ent, er, un; auch einsilbige Worte von proclitischer oder enclitischer pwa_434.007
Natur wie die Pronomina und die Praepositionen, z. B. er, ich, in, pwa_434.008
an, aus u. s. w. entsprechen der aufgestellten Forderung. Unrichtig pwa_434.009
wäre also nach dem Gesagten die Apocope: „Es herrsch' Ándacht; pwa_434.010
der graus' Ánblick.“ In volksmässigen, freier gebauten Versen kann pwa_434.011
auch vor einem zweisilbigen Worte Apocope eintreten, falls dieses pwa_434.012
von untergeordneter Bedeutung und in beiden Silben tonlos ist: z. B. pwa_434.013
„Ich hatt' einen Kameraden“ (Uhland).
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Bei der Tilgung des Schluss-e fliesst das so gekürzte Wort mit pwa_434.015
dem folgenden wie in eins zusammen; es findet nicht bloss Apocope pwa_434.016
des ersten statt, sondern dieses wird zugleich mit dem zweiten in eins pwa_434.017
gezogen und verschleift, so dass die beiden Worte wie Silben eines pwa_434.018
und desselben Wortes erscheinen. Z. B. „Mit deiner Lieb' umgeben; pwa_434.019
lass eine Weis' erklingen:“ hier folgen um, er unmittelbar und ungetrennt pwa_434.020
auf das b, s. Diese Verschleifung ist unmöglich, wenn die pwa_434.021
Worte durch Interpunction getrennt sind, also eine Pause zwischen pwa_434.022
beiden eintritt: in diesem Falle wird die Apocope unterlassen. Aus pwa_434.023
dem gleichen Grunde war nun gar das eine Verkehrtheit, wenn Dichter pwa_434.024
des siebzehnten Jahrhunderts sogar aus einem Vers in den andern pwa_434.025
hinein apocopierten und ein e am Schluss des ersten Verses wegliessen, pwa_434.026
weil der zweite vocalisch begann.
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Die bisherigen positiven und negativen Bestimmungen geben nur pwa_434.028
das Allgemeine; will man sie in das Einzelne hinein anwenden, so pwa_434.029
erleiden sie mehrfache Beschränkungen. Es kommt namentlich darauf pwa_434.030
an, welcher Art von Worten das erste Wort angehört, und welcherlei pwa_434.031
Consonanten dem e vorangehn.
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Substantiva können unbedenklich apocopiert werden, wenn dem pwa_434.033
stummen e eine Media, ein b, d, g, s, w vorangeht: z. B. „Seine Hab' pwa_434.034
ist ihm entwandt; Gottes Gnad' und Güte; alle Tag' in Sorg' und pwa_434.035
Klage; dass auch ein Löw' erschrickt“ u. dgl. Bei der richtigen weichen pwa_434.036
Aussprache hört man hier, dass ein e apocopiert, dass eine Verschleifung pwa_434.037
eingetreten ist; denn b, d, g, s, w sind nur vor Vocalen pwa_434.038
rein auszusprechen, nicht aber am wirklichen Schluss eines Wortes. pwa_434.039
Da klingt die Apocope weder wie eine harte Abbrechung, noch ist pwa_434.040
irgendwie ein Missverständniss möglich. Das ist aber der Fall, wo pwa_434.041
vor dem tonlosen e eine Tenuis, eine Aspirata oder eine Liquida steht:
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