Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_439.001 pwa_439.011 pwa_439.001 pwa_439.011 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0457" n="439"/><lb n="pwa_439.001"/> aber auch gleich wieder eine Abwechslung: es sind nämlich nur die <lb n="pwa_439.002"/> Anfangslaute gleich, das Uebrige ist verschieden. Beim Reime ist <lb n="pwa_439.003"/> es grade umgekehrt: hier sind die Anfangslaute verschieden, alles <lb n="pwa_439.004"/> Uebrige gleich: Baum, Berg, brennen allitterieren; Baum: Traum, <lb n="pwa_439.005"/> Berg: Zwerg, brennen: kennen bilden einen Reim. Die Allitteration <lb n="pwa_439.006"/> kann den Vers beginnen, der Reim schliesst ihn immer. Also findet <lb n="pwa_439.007"/> sich auch hier, auch beim Reim, nur in umgekehrter Ordnung Gleichheit <lb n="pwa_439.008"/> und Verschiedenheit, Wiederholung und Wechsel, d. h. Ruhe und <lb n="pwa_439.009"/> Bewegung, Einheit und Mannigfaltigkeit. Die Allitteration ist somit <lb n="pwa_439.010"/> die Anaphora, der Reim die Epiphora des Verses.</p> <p><lb n="pwa_439.011"/> Die Allitteration beginnt also mit dem Gleichen, der Reim mit <lb n="pwa_439.012"/> dem Ungleichen. Mit diesem Unterschiede in der Form hängt zusammen <lb n="pwa_439.013"/> der Unterschied in der Bedeutung, der zwischen den allitterierenden <lb n="pwa_439.014"/> und den reimenden Redensarten besteht. Wir haben nämlich bis <lb n="pwa_439.015"/> in die gewöhnliche Rede hinein, in Prosa, eine Menge von sprichwörtlichen, <lb n="pwa_439.016"/> feststehenden Wortpaarungen, die aber ihrem Gehalte, <lb n="pwa_439.017"/> ihrer Fassung und ihrem Ursprunge nach eigentlich in die Poesie <lb n="pwa_439.018"/> gehören. Sie allitterieren theils, theils reimen sie. Und da ist denn <lb n="pwa_439.019"/> eine Regel, die freilich nicht ausnahmslos ist, dass die Wortpaare, <lb n="pwa_439.020"/> welche allitterieren, begriffsverwandt oder gar tautologisch sind, die <lb n="pwa_439.021"/> reimenden dagegen eine Antithese bilden oder doch verschieden sind; <lb n="pwa_439.022"/> z. B. allitterierend: „Feuer und Flamme, Geld und Gut;“ reimend: <lb n="pwa_439.023"/> „Stein und Bein (Todtes und Lebendes), Gut und Blut.“ Also, wo der <lb n="pwa_439.024"/> gleiche Anfang, bei der Allitteration, da herrscht auch Gleichheit des <lb n="pwa_439.025"/> Sinnes; wo aber ungleicher Anfang, beim Reim, da ist auch der Sinn <lb n="pwa_439.026"/> ungleich oder gar entgegengesetzt. In beiden Fällen zeigt sich kein <lb n="pwa_439.027"/> indifferentes Verhältniss, sondern ein Parallelismus. So verhält es sich <lb n="pwa_439.028"/> auch im Lateinischen mit der Allitteration und dem Reim. Die Allitteration <lb n="pwa_439.029"/> haben vorzugsweise die sprichwörtlichen Redensarten und Formeln <lb n="pwa_439.030"/> namentlich der Rechtssprache und sonstiger öffentlicher Verhandlungen, <lb n="pwa_439.031"/> kurz die Ausdrücke, die man vocabula forensia nennt; sie <lb n="pwa_439.032"/> beruhen meist auf Tautologie oder auf Begriffsverwandtschaft, wie <lb n="pwa_439.033"/> z. B.: „Do, dono, dedico; felix faustum fortunatumque, muri et moenia, <lb n="pwa_439.034"/> longe lateque.“ Der Reim ist bei den Römern aus der accentuierenden <lb n="pwa_439.035"/> Volkspoesie auch in die gebildete, quantitierende Kunstpoesie übergegangen. <lb n="pwa_439.036"/> Ovid z. B. liebt es im Hexameter und Pentameter, die <lb n="pwa_439.037"/> Cäsur und den Schluss zu reimen, und die Reimworte bilden alsdann <lb n="pwa_439.038"/> gern einen Gegensatz, wie in dem Verse: „Haec tibi sint <hi rendition="#i">mecum,</hi> mihi <lb n="pwa_439.039"/> sint communia <hi rendition="#i">tecum</hi>“ (Amor. 2, 5, 31). Aber noch häufiger besteht <lb n="pwa_439.040"/> zwischen beiden Reimworten eine enge Verbindung, wie zwischen <lb n="pwa_439.041"/> Substantiv und Adjectiv; so Trist. 1, 6, 32: „Exstinctum <hi rendition="#i">longis</hi> occidit </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [439/0457]
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aber auch gleich wieder eine Abwechslung: es sind nämlich nur die pwa_439.002
Anfangslaute gleich, das Uebrige ist verschieden. Beim Reime ist pwa_439.003
es grade umgekehrt: hier sind die Anfangslaute verschieden, alles pwa_439.004
Uebrige gleich: Baum, Berg, brennen allitterieren; Baum: Traum, pwa_439.005
Berg: Zwerg, brennen: kennen bilden einen Reim. Die Allitteration pwa_439.006
kann den Vers beginnen, der Reim schliesst ihn immer. Also findet pwa_439.007
sich auch hier, auch beim Reim, nur in umgekehrter Ordnung Gleichheit pwa_439.008
und Verschiedenheit, Wiederholung und Wechsel, d. h. Ruhe und pwa_439.009
Bewegung, Einheit und Mannigfaltigkeit. Die Allitteration ist somit pwa_439.010
die Anaphora, der Reim die Epiphora des Verses.
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Die Allitteration beginnt also mit dem Gleichen, der Reim mit pwa_439.012
dem Ungleichen. Mit diesem Unterschiede in der Form hängt zusammen pwa_439.013
der Unterschied in der Bedeutung, der zwischen den allitterierenden pwa_439.014
und den reimenden Redensarten besteht. Wir haben nämlich bis pwa_439.015
in die gewöhnliche Rede hinein, in Prosa, eine Menge von sprichwörtlichen, pwa_439.016
feststehenden Wortpaarungen, die aber ihrem Gehalte, pwa_439.017
ihrer Fassung und ihrem Ursprunge nach eigentlich in die Poesie pwa_439.018
gehören. Sie allitterieren theils, theils reimen sie. Und da ist denn pwa_439.019
eine Regel, die freilich nicht ausnahmslos ist, dass die Wortpaare, pwa_439.020
welche allitterieren, begriffsverwandt oder gar tautologisch sind, die pwa_439.021
reimenden dagegen eine Antithese bilden oder doch verschieden sind; pwa_439.022
z. B. allitterierend: „Feuer und Flamme, Geld und Gut;“ reimend: pwa_439.023
„Stein und Bein (Todtes und Lebendes), Gut und Blut.“ Also, wo der pwa_439.024
gleiche Anfang, bei der Allitteration, da herrscht auch Gleichheit des pwa_439.025
Sinnes; wo aber ungleicher Anfang, beim Reim, da ist auch der Sinn pwa_439.026
ungleich oder gar entgegengesetzt. In beiden Fällen zeigt sich kein pwa_439.027
indifferentes Verhältniss, sondern ein Parallelismus. So verhält es sich pwa_439.028
auch im Lateinischen mit der Allitteration und dem Reim. Die Allitteration pwa_439.029
haben vorzugsweise die sprichwörtlichen Redensarten und Formeln pwa_439.030
namentlich der Rechtssprache und sonstiger öffentlicher Verhandlungen, pwa_439.031
kurz die Ausdrücke, die man vocabula forensia nennt; sie pwa_439.032
beruhen meist auf Tautologie oder auf Begriffsverwandtschaft, wie pwa_439.033
z. B.: „Do, dono, dedico; felix faustum fortunatumque, muri et moenia, pwa_439.034
longe lateque.“ Der Reim ist bei den Römern aus der accentuierenden pwa_439.035
Volkspoesie auch in die gebildete, quantitierende Kunstpoesie übergegangen. pwa_439.036
Ovid z. B. liebt es im Hexameter und Pentameter, die pwa_439.037
Cäsur und den Schluss zu reimen, und die Reimworte bilden alsdann pwa_439.038
gern einen Gegensatz, wie in dem Verse: „Haec tibi sint mecum, mihi pwa_439.039
sint communia tecum“ (Amor. 2, 5, 31). Aber noch häufiger besteht pwa_439.040
zwischen beiden Reimworten eine enge Verbindung, wie zwischen pwa_439.041
Substantiv und Adjectiv; so Trist. 1, 6, 32: „Exstinctum longis occidit
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