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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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denn wenn z. B. Theodor Körner Gotte: Tode reimt, so ist hier mehr pwa_441.002
Verschiedenheit als Gleichheit. Nun wäre es freilich eine vergebliche pwa_441.003
Mühe, Grenzen stecken zu wollen, und es wäre verkehrt zu sagen, pwa_441.004
der Reim entblättert: vergöttert sei eher erlaubt als erwidert: erschüttert, pwa_441.005
weil dort nur in den Vocalen, hier aber in den Vocalen und den pwa_441.006
Consonanten gefehlt wird. Jede Grenze ist willkürlich und unsicher: pwa_441.007
darum soll nicht weniger Unreinheit stattfinden, sondern gar keine; pwa_441.008
der Reim verlangt volle Reinheit. Und es geht auch ganz wohl. pwa_441.009
Wenn es den deutschen Dichtern des dreizehnten Jahrhunderts möglich pwa_441.010
war, wo Gedichte von 50,000 Versen ohne einen einzigen unreinen pwa_441.011
Reim vorkommen, warum sollte es Vielen unter uns unmöglich sein, pwa_441.012
nur vier Verse von Misslauten frei zu halten? Dass es aber möglich pwa_441.013
ist, beweisen auch einzelne Dichter, wie Rückert und Platen. Platen pwa_441.014
freilich ist bei allem Streben nach Reinheit des Reimes nicht frei von pwa_441.015
Pedanterei, da er den Gleichlaut in orthographischer Uebereinstimmung pwa_441.016
sucht; er reimt wohl Mut: Blut, Güte: Blüte, nicht aber grün: blühn, pwa_441.017
dawider: Lieder. Rückert aber zeigt, dass, wenn man sich die Reinheit pwa_441.018
zum Gesetze macht, dem Dichter darum nicht weniger Reime zu pwa_441.019
Gebote stehn, im Gegentheil mehr, und dass die Genauigkeit des pwa_441.020
Reimes mehr Anlass bietet, die Sprache auszubeuten und zu bereichern: pwa_441.021
finden sich doch bei wenigen Dichtern so viel neue, überraschende, pwa_441.022
wohllautende Gleichklänge!

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Eine Ungehörigkeit und Geschmacklosigkeit, welche lateinische pwa_441.024
und deutsche und französische Schriftsteller des Mittelalters mit den pwa_441.025
arabischen theilen, ist die Einmischung des Reimes in die Prosa, die pwa_441.026
Ausschmückung der sonst unrhythmischen Rede mit dem Gleichlaute pwa_441.027
des Reims, indem den einzelnen Sätzen und Satzgliedern reimende pwa_441.028
Schlussworte gegeben werden. Das namhafteste arabische Beispiel pwa_441.029
dieser Art sind die durch Rückert nun auch in Deutschland einheimisch pwa_441.030
gewordenen Makamen des Hariri, eines Dichters aus Basra, der um das pwa_441.031
Jahr 1100 lebte (LB. 2, 1569). Der Reim in lateinischer Prosa findet sich pwa_441.032
in der lex Salica, namentlich in der Vita Sancti Galli aus dem 8. Jahrhundert, pwa_441.033
dann bei mehreren deutschen und böhmischen Geschichtsschreibern pwa_441.034
der fränkischen Kaiser, also des 11. Jahrhunderts; damals pwa_441.035
und nach dem Vorgange der lateinischen Litteratur kam die reimende pwa_441.036
Prosa auch in Deutschland und Frankreich zur Geltung und war hier pwa_441.037
bis zum 13. Jahrhundert ganz allgemein üblich. Das hauptsächlichste pwa_441.038
Beispiel ist eine Schrift des 12. Jahrhunderts, die Verdeutschung von pwa_441.039
des heiligen Nortpert Tractatus de Virtutibus (LB. 14, 189. 15, 367), pwa_441.040
wo der im lateinischen Original fehlende Prosareim noch auf den pwa_441.041
Schluss der Abschnitte beschränkt ist. Vgl. Litt. Gesch. S. 84 fgg.

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Pedanterei, da er den Gleichlaut in orthographischer Uebereinstimmung pwa_441.016
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Reimes mehr Anlass bietet, die Sprache auszubeuten und zu bereichern: pwa_441.021
finden sich doch bei wenigen Dichtern so viel neue, überraschende, pwa_441.022
wohllautende Gleichklänge!

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Eine Ungehörigkeit und Geschmacklosigkeit, welche lateinische pwa_441.024
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/459>, abgerufen am 22.11.2024.