Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_039.001 pwa_039.017 3. BENENNUNGEN DER POESIE. pwa_039.018 pwa_039.029 pwa_039.001 pwa_039.017 3. BENENNUNGEN DER POESIE. pwa_039.018 pwa_039.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0057" n="39"/><lb n="pwa_039.001"/> worden, also überhaupt die älteste Poesie dar als die unwillkürliche <lb n="pwa_039.002"/> Aeusserung eines schmerzlichen Mitleidens. Ein heiliger Einsiedler, <lb n="pwa_039.003"/> Walmiki, sieht, wie aus einem Paare von Reihern der eine getödtet <lb n="pwa_039.004"/> wird; da bricht er in Klagen und Verwünschungen aus; ohne dass <lb n="pwa_039.005"/> er es merkt, ordnen seine Worte sich rhythmisch. Erst da sie gesprochen <lb n="pwa_039.006"/> sind, fällt es ihm auf; gleich kommt auch Brahma und <lb n="pwa_039.007"/> befiehlt ihm in dieser Form ein Epos zu verfassen, das erste, älteste <lb n="pwa_039.008"/> aller Gedichte, Ramáyana: vgl. Fr. Schlegel, Sprache und Weisheit <lb n="pwa_039.009"/> der Inder S. 263–271. Phil. Wackernagels Auswahl deutscher Gedichte, <lb n="pwa_039.010"/> 5. Aufl. S. 207. Freundlich, aber minder tief ist die persische <lb n="pwa_039.011"/> Sage vom Ursprunge des Reimverses: Behram, der Sassanide, hat <lb n="pwa_039.012"/> eine geliebte Sclavin Dilaram, die aus liebender Uebereinstimmung <lb n="pwa_039.013"/> jede Rede ihres Herrn mit gleichgemessenen und gleichschliessenden <lb n="pwa_039.014"/> Worten erwidert: hier ist es also die Liebe, welche den Versbau <lb n="pwa_039.015"/> mit Reim hervorbringt: vgl. Rückert, Oestliche Rosen 150; LB. <lb n="pwa_039.016"/> 2, 1563.</p> </div> <div n="4"> <lb n="pwa_039.017"/> <head> <hi rendition="#c">3. BENENNUNGEN DER POESIE.</hi> </head> <p><lb n="pwa_039.018"/> Die Benennungen, welche zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen <lb n="pwa_039.019"/> Völkern der Dichtkunst und den Dichtern sind beigelegt <lb n="pwa_039.020"/> worden, beziehen sich, soweit man sie etymologisch ausdeuten kann, <lb n="pwa_039.021"/> fast alle entweder auf den innigen Zusammenhang der Poesie mit der <lb n="pwa_039.022"/> Sprache, oder auf ihre altgewohnte Verbindung mit der Musik, oder <lb n="pwa_039.023"/> auf den Parallelismus der schöpferischen Einbildung des Menschen <lb n="pwa_039.024"/> mit der schaffenden Allmacht Gottes. Insofern können sie alle in <lb n="pwa_039.025"/> dieser oder in jener Weise zur letzten Bestätigung dessen dienen, <lb n="pwa_039.026"/> was bisher im ersten Abschnitt über das Wesen und im zweiten über <lb n="pwa_039.027"/> den Ursprung der Poesie ist bemerkt worden; deshalb ist ihnen auch <lb n="pwa_039.028"/> eine schnell vorübergehende Betrachtung zu widmen.</p> <p><lb n="pwa_039.029"/> Bei Homer erscheinen Dichtkunst und Musik auf das engste verbunden: <lb n="pwa_039.030"/> jeder Dichter ist zugleich Sänger. Daher hat er für Dichten <lb n="pwa_039.031"/> und Gedicht und Dichter das gleiche Wort als für Singen und Gesang <lb n="pwa_039.032"/> und Sänger: <foreign xml:lang="grc">ἀείδειν, ἀοιδή, ἀοιδός</foreign>. Späterhin, wo Dichtung und Musik <lb n="pwa_039.033"/> schon auseinandergegangen, werden diese Ausdrücke bloss vom Singen <lb n="pwa_039.034"/> gebraucht; nur <foreign xml:lang="grc">ᾠδή</foreign> bezeichnet Gesang und eine besondre Gattung <lb n="pwa_039.035"/> von Gedichten, nämlich lyrische: denn bei diesen erhielt sich die <lb n="pwa_039.036"/> alte Verbindung länger. Sonst kommt nun für Dichten ein besonderer <lb n="pwa_039.037"/> Ausdruck auf, der es als ein Schaffen darstellt: <foreign xml:lang="grc">ποιέω, ποιητής, ποίημα</foreign>, <lb n="pwa_039.038"/> <foreign xml:lang="grc">ποίησις</foreign>, Ausdrücke, die wir zuerst bei Herodot finden. Zu dieser <lb n="pwa_039.039"/> Zeit, wo zuerst neben der Poesie auch Prosa, und zwar die historische, <lb n="pwa_039.040"/> die der bloss verständig reproducierenden Erinnerung, in Aufnahme </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [39/0057]
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worden, also überhaupt die älteste Poesie dar als die unwillkürliche pwa_039.002
Aeusserung eines schmerzlichen Mitleidens. Ein heiliger Einsiedler, pwa_039.003
Walmiki, sieht, wie aus einem Paare von Reihern der eine getödtet pwa_039.004
wird; da bricht er in Klagen und Verwünschungen aus; ohne dass pwa_039.005
er es merkt, ordnen seine Worte sich rhythmisch. Erst da sie gesprochen pwa_039.006
sind, fällt es ihm auf; gleich kommt auch Brahma und pwa_039.007
befiehlt ihm in dieser Form ein Epos zu verfassen, das erste, älteste pwa_039.008
aller Gedichte, Ramáyana: vgl. Fr. Schlegel, Sprache und Weisheit pwa_039.009
der Inder S. 263–271. Phil. Wackernagels Auswahl deutscher Gedichte, pwa_039.010
5. Aufl. S. 207. Freundlich, aber minder tief ist die persische pwa_039.011
Sage vom Ursprunge des Reimverses: Behram, der Sassanide, hat pwa_039.012
eine geliebte Sclavin Dilaram, die aus liebender Uebereinstimmung pwa_039.013
jede Rede ihres Herrn mit gleichgemessenen und gleichschliessenden pwa_039.014
Worten erwidert: hier ist es also die Liebe, welche den Versbau pwa_039.015
mit Reim hervorbringt: vgl. Rückert, Oestliche Rosen 150; LB. pwa_039.016
2, 1563.
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3. BENENNUNGEN DER POESIE. pwa_039.018
Die Benennungen, welche zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen pwa_039.019
Völkern der Dichtkunst und den Dichtern sind beigelegt pwa_039.020
worden, beziehen sich, soweit man sie etymologisch ausdeuten kann, pwa_039.021
fast alle entweder auf den innigen Zusammenhang der Poesie mit der pwa_039.022
Sprache, oder auf ihre altgewohnte Verbindung mit der Musik, oder pwa_039.023
auf den Parallelismus der schöpferischen Einbildung des Menschen pwa_039.024
mit der schaffenden Allmacht Gottes. Insofern können sie alle in pwa_039.025
dieser oder in jener Weise zur letzten Bestätigung dessen dienen, pwa_039.026
was bisher im ersten Abschnitt über das Wesen und im zweiten über pwa_039.027
den Ursprung der Poesie ist bemerkt worden; deshalb ist ihnen auch pwa_039.028
eine schnell vorübergehende Betrachtung zu widmen.
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Bei Homer erscheinen Dichtkunst und Musik auf das engste verbunden: pwa_039.030
jeder Dichter ist zugleich Sänger. Daher hat er für Dichten pwa_039.031
und Gedicht und Dichter das gleiche Wort als für Singen und Gesang pwa_039.032
und Sänger: ἀείδειν, ἀοιδή, ἀοιδός. Späterhin, wo Dichtung und Musik pwa_039.033
schon auseinandergegangen, werden diese Ausdrücke bloss vom Singen pwa_039.034
gebraucht; nur ᾠδή bezeichnet Gesang und eine besondre Gattung pwa_039.035
von Gedichten, nämlich lyrische: denn bei diesen erhielt sich die pwa_039.036
alte Verbindung länger. Sonst kommt nun für Dichten ein besonderer pwa_039.037
Ausdruck auf, der es als ein Schaffen darstellt: ποιέω, ποιητής, ποίημα, pwa_039.038
ποίησις, Ausdrücke, die wir zuerst bei Herodot finden. Zu dieser pwa_039.039
Zeit, wo zuerst neben der Poesie auch Prosa, und zwar die historische, pwa_039.040
die der bloss verständig reproducierenden Erinnerung, in Aufnahme
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