pwa_046.001 durch dasselbe und in und mit ihm lebt. Erst nach und nach, wie pwa_046.002 die Sittigung anwächst, die zu einem künstlicheren Staatswesen in pwa_046.003 Wechselbeziehung steht, erwacht auch das ausschliessende Selbstbewusstsein pwa_046.004 der Einzelnen, und beginnen sie ihre Persönlichkeit geltend pwa_046.005 zu machen. In Zeiten wie diesen kann sich kein Epos zuerst pwa_046.006 entwickeln: denn das Epos verlangt, wie das weiterhin ausführlicher pwa_046.007 soll dargestellt werden, dass die Individualitat des Dichters aufgehe pwa_046.008 in die Gesammtheit des Volkes. Auf der andern Seite kann jener pwa_046.009 frühere Zustand ebensowenig die Grundlage abgeben für die Lyrik: pwa_046.010 die Lyrik hat es mit den Innerlichkeiten des Individuums zu thun: pwa_046.011 in jenen Zeiten weiss sich aber noch Keiner recht als solches. Auch pwa_046.012 pflegt der einfache Mensch unempfindlich zu sein gegen feinere Eindrücke pwa_046.013 auf sein Gefühl, und bei stärkeren so leidenschaftlich, dass pwa_046.014 er eher schreit als singt. Vielmehr, was sich mit jenem früheren pwa_046.015 natürlicheren Volksleben einzig verträgt, die unmittelbare und nothwendige pwa_046.016 Frucht desselben, ist die epische; was nur bei einem künstlicheren pwa_046.017 Staatsleben noch möglich ist und sich als dessen Ausdruck pwa_046.018 ergiebt, die lyrische Poesie.
pwa_046.019 Endlich kommt hier noch ein vierter Punct in Anschlag. Seiner pwa_046.020 selbst ist sich also in jenem Urzustande der Einzelne wenig bewusst: pwa_046.021 wessen er sich aber und mit ihm alle Stammverwandten sich bewusst pwa_046.022 sind, und nicht bloss im Verstande, sondern von ganzer Seele bewusst pwa_046.023 sind, das ist die Abhängigkeit von Gott: in Allen wohnt das Gefühl pwa_046.024 und die Erfahrung, dass das ganze Volk, dass alle Menschheit, alle pwa_046.025 Welt aus Gott komme und nur durch ihn Bestand habe; was auch pwa_046.026 geschieht, sie erkennen, dass es durch Gott geschehe. Dieses Bewusstsein pwa_046.027 zugleich des göttlichen Ursprunges und der Abhängigkeit pwa_046.028 von Gott spricht sich überall selbst in den Mythen des Heidenthums pwa_046.029 aus, indem es z. B. Götter sind, welche die einzelnen Völker zu ihren pwa_046.030 Stammvätern und zu Ahnherrn ihrer Könige machen. Je weiter aber pwa_046.031 die Geschichte vorwärts rückt, desto mehr entfremdet sich auch die pwa_046.032 Menschheit ihrem höheren Ursprunge, desto mehr wendet sie das pwa_046.033 Auge von Gott zurück auf sich selbst; desto mehr verdunkelt sich in pwa_046.034 den Einzelnen das unbefangene Gefühl des unmittelbaren Zusammenhanges pwa_046.035 mit ihm, desto mehr glaubt Jeder für sich zu stehn und das pwa_046.036 Heil in sich selber zu finden. Auch in dieser Beziehung ist dort nur pwa_046.037 das Epos, und ist hier nur die Lyrik begründet: dort diejenige Gattung pwa_046.038 der Poesie, die Gott in der Geschichte anschaut; hier diejenige, pwa_046.039 die ihn ausserhalb der Geschichte, die ihn im Ich zu erkennen pwa_046.040 sucht, die sich oft genug sogar mit einem gottverlassenen Ich pwa_046.041 begnügen mag.
pwa_046.001 durch dasselbe und in und mit ihm lebt. Erst nach und nach, wie pwa_046.002 die Sittigung anwächst, die zu einem künstlicheren Staatswesen in pwa_046.003 Wechselbeziehung steht, erwacht auch das ausschliessende Selbstbewusstsein pwa_046.004 der Einzelnen, und beginnen sie ihre Persönlichkeit geltend pwa_046.005 zu machen. In Zeiten wie diesen kann sich kein Epos zuerst pwa_046.006 entwickeln: denn das Epos verlangt, wie das weiterhin ausführlicher pwa_046.007 soll dargestellt werden, dass die Individualitat des Dichters aufgehe pwa_046.008 in die Gesammtheit des Volkes. Auf der andern Seite kann jener pwa_046.009 frühere Zustand ebensowenig die Grundlage abgeben für die Lyrik: pwa_046.010 die Lyrik hat es mit den Innerlichkeiten des Individuums zu thun: pwa_046.011 in jenen Zeiten weiss sich aber noch Keiner recht als solches. Auch pwa_046.012 pflegt der einfache Mensch unempfindlich zu sein gegen feinere Eindrücke pwa_046.013 auf sein Gefühl, und bei stärkeren so leidenschaftlich, dass pwa_046.014 er eher schreit als singt. Vielmehr, was sich mit jenem früheren pwa_046.015 natürlicheren Volksleben einzig verträgt, die unmittelbare und nothwendige pwa_046.016 Frucht desselben, ist die epische; was nur bei einem künstlicheren pwa_046.017 Staatsleben noch möglich ist und sich als dessen Ausdruck pwa_046.018 ergiebt, die lyrische Poesie.
pwa_046.019 Endlich kommt hier noch ein vierter Punct in Anschlag. Seiner pwa_046.020 selbst ist sich also in jenem Urzustande der Einzelne wenig bewusst: pwa_046.021 wessen er sich aber und mit ihm alle Stammverwandten sich bewusst pwa_046.022 sind, und nicht bloss im Verstande, sondern von ganzer Seele bewusst pwa_046.023 sind, das ist die Abhängigkeit von Gott: in Allen wohnt das Gefühl pwa_046.024 und die Erfahrung, dass das ganze Volk, dass alle Menschheit, alle pwa_046.025 Welt aus Gott komme und nur durch ihn Bestand habe; was auch pwa_046.026 geschieht, sie erkennen, dass es durch Gott geschehe. Dieses Bewusstsein pwa_046.027 zugleich des göttlichen Ursprunges und der Abhängigkeit pwa_046.028 von Gott spricht sich überall selbst in den Mythen des Heidenthums pwa_046.029 aus, indem es z. B. Götter sind, welche die einzelnen Völker zu ihren pwa_046.030 Stammvätern und zu Ahnherrn ihrer Könige machen. Je weiter aber pwa_046.031 die Geschichte vorwärts rückt, desto mehr entfremdet sich auch die pwa_046.032 Menschheit ihrem höheren Ursprunge, desto mehr wendet sie das pwa_046.033 Auge von Gott zurück auf sich selbst; desto mehr verdunkelt sich in pwa_046.034 den Einzelnen das unbefangene Gefühl des unmittelbaren Zusammenhanges pwa_046.035 mit ihm, desto mehr glaubt Jeder für sich zu stehn und das pwa_046.036 Heil in sich selber zu finden. Auch in dieser Beziehung ist dort nur pwa_046.037 das Epos, und ist hier nur die Lyrik begründet: dort diejenige Gattung pwa_046.038 der Poesie, die Gott in der Geschichte anschaut; hier diejenige, pwa_046.039 die ihn ausserhalb der Geschichte, die ihn im Ich zu erkennen pwa_046.040 sucht, die sich oft genug sogar mit einem gottverlassenen Ich pwa_046.041 begnügen mag.
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/64>, abgerufen am 21.11.2024.
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