Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_047.001 pwa_047.005 pwa_047.018 pwa_047.030 pwa_047.034 pwa_047.001 pwa_047.005 pwa_047.018 pwa_047.030 pwa_047.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0065" n="47"/> <p><lb n="pwa_047.001"/> Dieser letzte Erwägungsgrund des historischen Verhältnisses zwischen <lb n="pwa_047.002"/> Epos und Lyrik bildet für uns den besten Uebergang zur <lb n="pwa_047.003"/> Erörterung des eigentlichen Wesens jener Gattung, ihrer Anschauungen <lb n="pwa_047.004"/> und ihrer Darstellungsart.</p> <p><lb n="pwa_047.005"/> Alle Poesie schaut das Schöne unter Formen der Wirklichkeit an: <lb n="pwa_047.006"/> auch die epische Poesie. Sie ist aber auf das höchste Schöne gerichtet, <lb n="pwa_047.007"/> auf die Einheit, die über und in aller Welt ruht, auf den göttlichen <lb n="pwa_047.008"/> Geist. Wie sie jedoch eine menschliche Kunst ist, so wird <lb n="pwa_047.009"/> sich ihre Anschauung niemals der ganzen Gottheit bemächtigen, sondern <lb n="pwa_047.010"/> aus der Fülle der Göttlichkeit immer nur ein Einzelnes, eine <lb n="pwa_047.011"/> vereinzelte Idee von religiösem oder sittlichem Gehalt herausgreifen <lb n="pwa_047.012"/> und sich aneignen können. Diese Idee nun wird angeschaut unter <lb n="pwa_047.013"/> Formen derjenigen Wirklichkeit, die der Einbildung am nächsten vorliegt, <lb n="pwa_047.014"/> und in der sich auch die Gottheit am deutlichsten offenbart, unter <lb n="pwa_047.015"/> Formen der Geschichte. Epische Anschauung ist demnach Anschauung <lb n="pwa_047.016"/> einer göttlichen, einer religiösen oder sittlichen Idee in Form einer <lb n="pwa_047.017"/> durch Causalität verbundenen Reihenfolge von äusseren Thatsachen.</p> <p><lb n="pwa_047.018"/> Diess die allgemeine Definition, welche für die epischen Gedichte <lb n="pwa_047.019"/> aller Zeiten, aller Völker, aller Arten passt, und es sind damit sowohl <lb n="pwa_047.020"/> die Anforderungen ausgesprochen, die man an die allerneueste Ballade <lb n="pwa_047.021"/> machen darf, als auch die ältesten Heldenlieder der Griechen u. s. f. <lb n="pwa_047.022"/> damit charakterisiert sind. Aber innerhalb dieser so weit ausgedehnten <lb n="pwa_047.023"/> Grenzen ist nun noch von den Besonderheiten dieser Heldenlieder <lb n="pwa_047.024"/> und jener Balladen zu sprechen und zu erörtern, wodurch sich die <lb n="pwa_047.025"/> epische Poesie der Jahrhunderte, wo es nichts anderes als Poesie und <lb n="pwa_047.026"/> keine andre Poesie gab als epische, unterscheide und unterscheiden <lb n="pwa_047.027"/> müsse von der epischen Poesie späterer Zeiten, wo neben derselben <lb n="pwa_047.028"/> schon eine ausgebildete Lyrik und Dramatik und schon eine prosaische <lb n="pwa_047.029"/> Geschichtsschreibung hergeht.</p> <p><lb n="pwa_047.030"/> Wir folgen dem Faden der historischen Entwickelung und schildern <lb n="pwa_047.031"/> zuerst das Epos, wie es anfänglich gewesen, das ältere und <lb n="pwa_047.032"/> ursprünglichere, das zugleich den Ursprung aller Poesie in sich <lb n="pwa_047.033"/> trägt.</p> <p><lb n="pwa_047.034"/> Indem die Einbildungskraft das Schöne, die göttliche Idee, unter <lb n="pwa_047.035"/> Formen der geschichtlichen Wirklichkeit anschaut, kann dabei das <lb n="pwa_047.036"/> Gedächtniss, es kann auch die Phantasie eine vorwaltende Thätigkeit <lb n="pwa_047.037"/> ausüben. Waltet das Gedächtniss vor, so wird zur Form der Anschauung <lb n="pwa_047.038"/> die Sage gewonnen; überwiegt die Phantasie, oder wirkt sie gar ausschliesslich, <lb n="pwa_047.039"/> so ergeben sich der Mythus, das Märchen und die Thiersage. <lb n="pwa_047.040"/> Diese vier verschiedenen Gestaltungen der epischen Anschauung <lb n="pwa_047.041"/> haben wir vorerst jede für sich näher zu betrachten.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [47/0065]
pwa_047.001
Dieser letzte Erwägungsgrund des historischen Verhältnisses zwischen pwa_047.002
Epos und Lyrik bildet für uns den besten Uebergang zur pwa_047.003
Erörterung des eigentlichen Wesens jener Gattung, ihrer Anschauungen pwa_047.004
und ihrer Darstellungsart.
pwa_047.005
Alle Poesie schaut das Schöne unter Formen der Wirklichkeit an: pwa_047.006
auch die epische Poesie. Sie ist aber auf das höchste Schöne gerichtet, pwa_047.007
auf die Einheit, die über und in aller Welt ruht, auf den göttlichen pwa_047.008
Geist. Wie sie jedoch eine menschliche Kunst ist, so wird pwa_047.009
sich ihre Anschauung niemals der ganzen Gottheit bemächtigen, sondern pwa_047.010
aus der Fülle der Göttlichkeit immer nur ein Einzelnes, eine pwa_047.011
vereinzelte Idee von religiösem oder sittlichem Gehalt herausgreifen pwa_047.012
und sich aneignen können. Diese Idee nun wird angeschaut unter pwa_047.013
Formen derjenigen Wirklichkeit, die der Einbildung am nächsten vorliegt, pwa_047.014
und in der sich auch die Gottheit am deutlichsten offenbart, unter pwa_047.015
Formen der Geschichte. Epische Anschauung ist demnach Anschauung pwa_047.016
einer göttlichen, einer religiösen oder sittlichen Idee in Form einer pwa_047.017
durch Causalität verbundenen Reihenfolge von äusseren Thatsachen.
pwa_047.018
Diess die allgemeine Definition, welche für die epischen Gedichte pwa_047.019
aller Zeiten, aller Völker, aller Arten passt, und es sind damit sowohl pwa_047.020
die Anforderungen ausgesprochen, die man an die allerneueste Ballade pwa_047.021
machen darf, als auch die ältesten Heldenlieder der Griechen u. s. f. pwa_047.022
damit charakterisiert sind. Aber innerhalb dieser so weit ausgedehnten pwa_047.023
Grenzen ist nun noch von den Besonderheiten dieser Heldenlieder pwa_047.024
und jener Balladen zu sprechen und zu erörtern, wodurch sich die pwa_047.025
epische Poesie der Jahrhunderte, wo es nichts anderes als Poesie und pwa_047.026
keine andre Poesie gab als epische, unterscheide und unterscheiden pwa_047.027
müsse von der epischen Poesie späterer Zeiten, wo neben derselben pwa_047.028
schon eine ausgebildete Lyrik und Dramatik und schon eine prosaische pwa_047.029
Geschichtsschreibung hergeht.
pwa_047.030
Wir folgen dem Faden der historischen Entwickelung und schildern pwa_047.031
zuerst das Epos, wie es anfänglich gewesen, das ältere und pwa_047.032
ursprünglichere, das zugleich den Ursprung aller Poesie in sich pwa_047.033
trägt.
pwa_047.034
Indem die Einbildungskraft das Schöne, die göttliche Idee, unter pwa_047.035
Formen der geschichtlichen Wirklichkeit anschaut, kann dabei das pwa_047.036
Gedächtniss, es kann auch die Phantasie eine vorwaltende Thätigkeit pwa_047.037
ausüben. Waltet das Gedächtniss vor, so wird zur Form der Anschauung pwa_047.038
die Sage gewonnen; überwiegt die Phantasie, oder wirkt sie gar ausschliesslich, pwa_047.039
so ergeben sich der Mythus, das Märchen und die Thiersage. pwa_047.040
Diese vier verschiedenen Gestaltungen der epischen Anschauung pwa_047.041
haben wir vorerst jede für sich näher zu betrachten.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |