Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_049.001 pwa_049.009 pwa_049.035 1 pwa_049.039
LB. 14, 103; Litt. Gesch. S. 67. pwa_049.001 pwa_049.009 pwa_049.035 1 pwa_049.039
LB. 14, 103; Litt. Gesch. S. 67. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0067" n="49"/><lb n="pwa_049.001"/> verschiedensten Völker, wenn schon sie jede an ihrem Orte daheim <lb n="pwa_049.002"/> und überall eben Nationalsagen sind, dennoch so oft in ihrem eigensten <lb n="pwa_049.003"/> Wesen wie auch in der Art der Gestaltung überein, und der <lb n="pwa_049.004"/> Schuss des Tellen findet sich schon Jahrhunderte früher als nordische <lb n="pwa_049.005"/> Sage vor: denn alle sprechen die überall einigen göttlichen Ideen aus, <lb n="pwa_049.006"/> die in der Geschichte wahrgenommen werden, und überall ist es die <lb n="pwa_049.007"/> menschliche Phantasie, die dem Gedächtniss bei der Gestaltung der <lb n="pwa_049.008"/> Anschauung wesentliche Dienste leistet.</p> <p><lb n="pwa_049.009"/> Wie demnach die Sage älter ist als die Geschichte, so spiegelt <lb n="pwa_049.010"/> sich auch im Epos, das älter ist als die Geschichtsschreibung und <lb n="pwa_049.011"/> älter als alle andre Poesie, die Geschichte immer nur als Sage wieder. <lb n="pwa_049.012"/> Immer und ohne Ausnahme. Sogar wo die alte Ependichtung auf <lb n="pwa_049.013"/> gleichzeitige, frisch erlebte Ereignisse gerichtet ist, kann sie es nicht <lb n="pwa_049.014"/> unterlassen ihnen eine sagenhafte Färbung zu geben: eine Auffassung <lb n="pwa_049.015"/> von gemeiner Wahrheit und Treue wäre dem dichtenden Geiste drückend <lb n="pwa_049.016"/> erschienen: sie hätte ihn mit unbequemen Einzelheiten belästigt, denen <lb n="pwa_049.017"/> es schwer war eine poetische Bedeutung abzugewinnen; die eigentlich <lb n="pwa_049.018"/> schöpferische Thätigkeit hätte sie ganz darnieder gehalten, indem bei <lb n="pwa_049.019"/> ihr die Phantasie gänzlich ausgeschlossen und lediglich das Gedächtniss <lb n="pwa_049.020"/> wäre angesprochen worden. Ein recht schlagendes Beispiel von <lb n="pwa_049.021"/> solcher sagenhafter Behandlung eben erlebter geschichtlicher Wirklichkeit <lb n="pwa_049.022"/> giebt der Ludwigsleich<note xml:id="pwa_049_1" place="foot" n="1"><lb n="pwa_049.039"/> LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 103; Litt. Gesch. S. 67.</note> vom J. 881. Er ist gleich nach dem <lb n="pwa_049.023"/> Ereignisse, das er erzählt, der Normannenschlacht bei Saucourt, abgefasst <lb n="pwa_049.024"/> worden: denn er spricht von Ludwig III. noch als einem lebenden; <lb n="pwa_049.025"/> Ludwig starb aber schon im J. 882. Dennoch ist er in einem <lb n="pwa_049.026"/> Zuge bereits ganz sagenartig: es kommt darin ein Wunder vor, ein <lb n="pwa_049.027"/> Zwiegespräch Gottes mit dem Könige. Aber durch eben diesen Zug <lb n="pwa_049.028"/> stellt sich auch die göttliche Idee, welche hier in einem Verlaufe von <lb n="pwa_049.029"/> Thatsachen angeschaut wird, um vieles deutlicher heraus: indem Gott <lb n="pwa_049.030"/> unmittelbar eingreifend erscheint, erkennt man auch besser den Gott, <lb n="pwa_049.031"/> der die Seinigen züchtigt, um ihnen, wenn sie die schwere Prüfung <lb n="pwa_049.032"/> bestanden haben und geläutert sind, rettend beizuspringen und sich <lb n="pwa_049.033"/> nach dem Zorne wieder als den Gott der hilfreichen Liebe zu <lb n="pwa_049.034"/> bewähren.</p> <p><lb n="pwa_049.035"/> Bei der Anschauung des Schönen in Form einer Sage hat also <lb n="pwa_049.036"/> das Gedächtniss ein Uebergewicht über die Phantasie: denn die Sage <lb n="pwa_049.037"/> fusst auf der wirklichen Geschichte, und es bleibt der schöpferischen <lb n="pwa_049.038"/> Phantasie nur das Recht zu ändern und einzuschalten. Anders verhält </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [49/0067]
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verschiedensten Völker, wenn schon sie jede an ihrem Orte daheim pwa_049.002
und überall eben Nationalsagen sind, dennoch so oft in ihrem eigensten pwa_049.003
Wesen wie auch in der Art der Gestaltung überein, und der pwa_049.004
Schuss des Tellen findet sich schon Jahrhunderte früher als nordische pwa_049.005
Sage vor: denn alle sprechen die überall einigen göttlichen Ideen aus, pwa_049.006
die in der Geschichte wahrgenommen werden, und überall ist es die pwa_049.007
menschliche Phantasie, die dem Gedächtniss bei der Gestaltung der pwa_049.008
Anschauung wesentliche Dienste leistet.
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Wie demnach die Sage älter ist als die Geschichte, so spiegelt pwa_049.010
sich auch im Epos, das älter ist als die Geschichtsschreibung und pwa_049.011
älter als alle andre Poesie, die Geschichte immer nur als Sage wieder. pwa_049.012
Immer und ohne Ausnahme. Sogar wo die alte Ependichtung auf pwa_049.013
gleichzeitige, frisch erlebte Ereignisse gerichtet ist, kann sie es nicht pwa_049.014
unterlassen ihnen eine sagenhafte Färbung zu geben: eine Auffassung pwa_049.015
von gemeiner Wahrheit und Treue wäre dem dichtenden Geiste drückend pwa_049.016
erschienen: sie hätte ihn mit unbequemen Einzelheiten belästigt, denen pwa_049.017
es schwer war eine poetische Bedeutung abzugewinnen; die eigentlich pwa_049.018
schöpferische Thätigkeit hätte sie ganz darnieder gehalten, indem bei pwa_049.019
ihr die Phantasie gänzlich ausgeschlossen und lediglich das Gedächtniss pwa_049.020
wäre angesprochen worden. Ein recht schlagendes Beispiel von pwa_049.021
solcher sagenhafter Behandlung eben erlebter geschichtlicher Wirklichkeit pwa_049.022
giebt der Ludwigsleich 1 vom J. 881. Er ist gleich nach dem pwa_049.023
Ereignisse, das er erzählt, der Normannenschlacht bei Saucourt, abgefasst pwa_049.024
worden: denn er spricht von Ludwig III. noch als einem lebenden; pwa_049.025
Ludwig starb aber schon im J. 882. Dennoch ist er in einem pwa_049.026
Zuge bereits ganz sagenartig: es kommt darin ein Wunder vor, ein pwa_049.027
Zwiegespräch Gottes mit dem Könige. Aber durch eben diesen Zug pwa_049.028
stellt sich auch die göttliche Idee, welche hier in einem Verlaufe von pwa_049.029
Thatsachen angeschaut wird, um vieles deutlicher heraus: indem Gott pwa_049.030
unmittelbar eingreifend erscheint, erkennt man auch besser den Gott, pwa_049.031
der die Seinigen züchtigt, um ihnen, wenn sie die schwere Prüfung pwa_049.032
bestanden haben und geläutert sind, rettend beizuspringen und sich pwa_049.033
nach dem Zorne wieder als den Gott der hilfreichen Liebe zu pwa_049.034
bewähren.
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Bei der Anschauung des Schönen in Form einer Sage hat also pwa_049.036
das Gedächtniss ein Uebergewicht über die Phantasie: denn die Sage pwa_049.037
fusst auf der wirklichen Geschichte, und es bleibt der schöpferischen pwa_049.038
Phantasie nur das Recht zu ändern und einzuschalten. Anders verhält
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LB. 14, 103; Litt. Gesch. S. 67.
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