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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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verschiedensten Völker, wenn schon sie jede an ihrem Orte daheim pwa_049.002
und überall eben Nationalsagen sind, dennoch so oft in ihrem eigensten pwa_049.003
Wesen wie auch in der Art der Gestaltung überein, und der pwa_049.004
Schuss des Tellen findet sich schon Jahrhunderte früher als nordische pwa_049.005
Sage vor: denn alle sprechen die überall einigen göttlichen Ideen aus, pwa_049.006
die in der Geschichte wahrgenommen werden, und überall ist es die pwa_049.007
menschliche Phantasie, die dem Gedächtniss bei der Gestaltung der pwa_049.008
Anschauung wesentliche Dienste leistet.

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Wie demnach die Sage älter ist als die Geschichte, so spiegelt pwa_049.010
sich auch im Epos, das älter ist als die Geschichtsschreibung und pwa_049.011
älter als alle andre Poesie, die Geschichte immer nur als Sage wieder. pwa_049.012
Immer und ohne Ausnahme. Sogar wo die alte Ependichtung auf pwa_049.013
gleichzeitige, frisch erlebte Ereignisse gerichtet ist, kann sie es nicht pwa_049.014
unterlassen ihnen eine sagenhafte Färbung zu geben: eine Auffassung pwa_049.015
von gemeiner Wahrheit und Treue wäre dem dichtenden Geiste drückend pwa_049.016
erschienen: sie hätte ihn mit unbequemen Einzelheiten belästigt, denen pwa_049.017
es schwer war eine poetische Bedeutung abzugewinnen; die eigentlich pwa_049.018
schöpferische Thätigkeit hätte sie ganz darnieder gehalten, indem bei pwa_049.019
ihr die Phantasie gänzlich ausgeschlossen und lediglich das Gedächtniss pwa_049.020
wäre angesprochen worden. Ein recht schlagendes Beispiel von pwa_049.021
solcher sagenhafter Behandlung eben erlebter geschichtlicher Wirklichkeit pwa_049.022
giebt der Ludwigsleich1 vom J. 881. Er ist gleich nach dem pwa_049.023
Ereignisse, das er erzählt, der Normannenschlacht bei Saucourt, abgefasst pwa_049.024
worden: denn er spricht von Ludwig III. noch als einem lebenden; pwa_049.025
Ludwig starb aber schon im J. 882. Dennoch ist er in einem pwa_049.026
Zuge bereits ganz sagenartig: es kommt darin ein Wunder vor, ein pwa_049.027
Zwiegespräch Gottes mit dem Könige. Aber durch eben diesen Zug pwa_049.028
stellt sich auch die göttliche Idee, welche hier in einem Verlaufe von pwa_049.029
Thatsachen angeschaut wird, um vieles deutlicher heraus: indem Gott pwa_049.030
unmittelbar eingreifend erscheint, erkennt man auch besser den Gott, pwa_049.031
der die Seinigen züchtigt, um ihnen, wenn sie die schwere Prüfung pwa_049.032
bestanden haben und geläutert sind, rettend beizuspringen und sich pwa_049.033
nach dem Zorne wieder als den Gott der hilfreichen Liebe zu pwa_049.034
bewähren.

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Bei der Anschauung des Schönen in Form einer Sage hat also pwa_049.036
das Gedächtniss ein Uebergewicht über die Phantasie: denn die Sage pwa_049.037
fusst auf der wirklichen Geschichte, und es bleibt der schöpferischen pwa_049.038
Phantasie nur das Recht zu ändern und einzuschalten. Anders verhält

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LB. 14, 103; Litt. Gesch. S. 67.

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verschiedensten Völker, wenn schon sie jede an ihrem Orte daheim pwa_049.002
und überall eben Nationalsagen sind, dennoch so oft in ihrem eigensten pwa_049.003
Wesen wie auch in der Art der Gestaltung überein, und der pwa_049.004
Schuss des Tellen findet sich schon Jahrhunderte früher als nordische pwa_049.005
Sage vor: denn alle sprechen die überall einigen göttlichen Ideen aus, pwa_049.006
die in der Geschichte wahrgenommen werden, und überall ist es die pwa_049.007
menschliche Phantasie, die dem Gedächtniss bei der Gestaltung der pwa_049.008
Anschauung wesentliche Dienste leistet.

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Wie demnach die Sage älter ist als die Geschichte, so spiegelt pwa_049.010
sich auch im Epos, das älter ist als die Geschichtsschreibung und pwa_049.011
älter als alle andre Poesie, die Geschichte immer nur als Sage wieder. pwa_049.012
Immer und ohne Ausnahme. Sogar wo die alte Ependichtung auf pwa_049.013
gleichzeitige, frisch erlebte Ereignisse gerichtet ist, kann sie es nicht pwa_049.014
unterlassen ihnen eine sagenhafte Färbung zu geben: eine Auffassung pwa_049.015
von gemeiner Wahrheit und Treue wäre dem dichtenden Geiste drückend pwa_049.016
erschienen: sie hätte ihn mit unbequemen Einzelheiten belästigt, denen pwa_049.017
es schwer war eine poetische Bedeutung abzugewinnen; die eigentlich pwa_049.018
schöpferische Thätigkeit hätte sie ganz darnieder gehalten, indem bei pwa_049.019
ihr die Phantasie gänzlich ausgeschlossen und lediglich das Gedächtniss pwa_049.020
wäre angesprochen worden. Ein recht schlagendes Beispiel von pwa_049.021
solcher sagenhafter Behandlung eben erlebter geschichtlicher Wirklichkeit pwa_049.022
giebt der Ludwigsleich1 vom J. 881. Er ist gleich nach dem pwa_049.023
Ereignisse, das er erzählt, der Normannenschlacht bei Saucourt, abgefasst pwa_049.024
worden: denn er spricht von Ludwig III. noch als einem lebenden; pwa_049.025
Ludwig starb aber schon im J. 882. Dennoch ist er in einem pwa_049.026
Zuge bereits ganz sagenartig: es kommt darin ein Wunder vor, ein pwa_049.027
Zwiegespräch Gottes mit dem Könige. Aber durch eben diesen Zug pwa_049.028
stellt sich auch die göttliche Idee, welche hier in einem Verlaufe von pwa_049.029
Thatsachen angeschaut wird, um vieles deutlicher heraus: indem Gott pwa_049.030
unmittelbar eingreifend erscheint, erkennt man auch besser den Gott, pwa_049.031
der die Seinigen züchtigt, um ihnen, wenn sie die schwere Prüfung pwa_049.032
bestanden haben und geläutert sind, rettend beizuspringen und sich pwa_049.033
nach dem Zorne wieder als den Gott der hilfreichen Liebe zu pwa_049.034
bewähren.

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Bei der Anschauung des Schönen in Form einer Sage hat also pwa_049.036
das Gedächtniss ein Uebergewicht über die Phantasie: denn die Sage pwa_049.037
fusst auf der wirklichen Geschichte, und es bleibt der schöpferischen pwa_049.038
Phantasie nur das Recht zu ändern und einzuschalten. Anders verhält

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LB. 14, 103; Litt. Gesch. S. 67.
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[49/0067] pwa_049.001 verschiedensten Völker, wenn schon sie jede an ihrem Orte daheim pwa_049.002 und überall eben Nationalsagen sind, dennoch so oft in ihrem eigensten pwa_049.003 Wesen wie auch in der Art der Gestaltung überein, und der pwa_049.004 Schuss des Tellen findet sich schon Jahrhunderte früher als nordische pwa_049.005 Sage vor: denn alle sprechen die überall einigen göttlichen Ideen aus, pwa_049.006 die in der Geschichte wahrgenommen werden, und überall ist es die pwa_049.007 menschliche Phantasie, die dem Gedächtniss bei der Gestaltung der pwa_049.008 Anschauung wesentliche Dienste leistet. pwa_049.009 Wie demnach die Sage älter ist als die Geschichte, so spiegelt pwa_049.010 sich auch im Epos, das älter ist als die Geschichtsschreibung und pwa_049.011 älter als alle andre Poesie, die Geschichte immer nur als Sage wieder. pwa_049.012 Immer und ohne Ausnahme. Sogar wo die alte Ependichtung auf pwa_049.013 gleichzeitige, frisch erlebte Ereignisse gerichtet ist, kann sie es nicht pwa_049.014 unterlassen ihnen eine sagenhafte Färbung zu geben: eine Auffassung pwa_049.015 von gemeiner Wahrheit und Treue wäre dem dichtenden Geiste drückend pwa_049.016 erschienen: sie hätte ihn mit unbequemen Einzelheiten belästigt, denen pwa_049.017 es schwer war eine poetische Bedeutung abzugewinnen; die eigentlich pwa_049.018 schöpferische Thätigkeit hätte sie ganz darnieder gehalten, indem bei pwa_049.019 ihr die Phantasie gänzlich ausgeschlossen und lediglich das Gedächtniss pwa_049.020 wäre angesprochen worden. Ein recht schlagendes Beispiel von pwa_049.021 solcher sagenhafter Behandlung eben erlebter geschichtlicher Wirklichkeit pwa_049.022 giebt der Ludwigsleich 1 vom J. 881. Er ist gleich nach dem pwa_049.023 Ereignisse, das er erzählt, der Normannenschlacht bei Saucourt, abgefasst pwa_049.024 worden: denn er spricht von Ludwig III. noch als einem lebenden; pwa_049.025 Ludwig starb aber schon im J. 882. Dennoch ist er in einem pwa_049.026 Zuge bereits ganz sagenartig: es kommt darin ein Wunder vor, ein pwa_049.027 Zwiegespräch Gottes mit dem Könige. Aber durch eben diesen Zug pwa_049.028 stellt sich auch die göttliche Idee, welche hier in einem Verlaufe von pwa_049.029 Thatsachen angeschaut wird, um vieles deutlicher heraus: indem Gott pwa_049.030 unmittelbar eingreifend erscheint, erkennt man auch besser den Gott, pwa_049.031 der die Seinigen züchtigt, um ihnen, wenn sie die schwere Prüfung pwa_049.032 bestanden haben und geläutert sind, rettend beizuspringen und sich pwa_049.033 nach dem Zorne wieder als den Gott der hilfreichen Liebe zu pwa_049.034 bewähren. pwa_049.035 Bei der Anschauung des Schönen in Form einer Sage hat also pwa_049.036 das Gedächtniss ein Uebergewicht über die Phantasie: denn die Sage pwa_049.037 fusst auf der wirklichen Geschichte, und es bleibt der schöpferischen pwa_049.038 Phantasie nur das Recht zu ändern und einzuschalten. Anders verhält 1 pwa_049.039 LB. 14, 103; Litt. Gesch. S. 67.

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/67>, abgerufen am 21.11.2024.