Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_050.001 pwa_050.003 pwa_050.018 pwa_050.001 pwa_050.003 pwa_050.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0068" n="50"/><lb n="pwa_050.001"/> es sich, wo die Anschauung gestaltet wird als Mythus, als Märchen, <lb n="pwa_050.002"/> als Thiersage. Hier ist das Vorrecht auf Seiten der Phantasie.</p> <p><lb n="pwa_050.003"/> Zuerst der <hi rendition="#b">Mythus.</hi> Wir wissen wohl, dass dieses Wort (es <lb n="pwa_050.004"/> kommt von <foreign xml:lang="grc">μύω</foreign>, sich zusammenfügen) bei Homer dem Character jener <lb n="pwa_050.005"/> Zeit gemäss, welche die Geschichte bloss mit dichterischen, nicht mit <lb n="pwa_050.006"/> kritischen Augen betrachtete, nur noch s. v. a. Erzählung überhaupt <lb n="pwa_050.007"/> bedeutet, seit Herodot aber dem Historiker und seit dem Lyriker <lb n="pwa_050.008"/> Pindar dichterische und erdichtete Erzählung im Gegensatze zur historischen <lb n="pwa_050.009"/> und historisch wahren: gleichwohl erlauben wir uns nicht ohne <lb n="pwa_050.010"/> den Vorgang Anderer den Begriff des Mythus auf diejenige dichterische <lb n="pwa_050.011"/> Erzählung einzuschränken, welche Thaten und Erlebnisse der Gottheit <lb n="pwa_050.012"/> selber vorführt. Ein deutsches und besser bezeichnendes Wort ist uns <lb n="pwa_050.013"/> nicht bekannt: Göttersage passt nur auf die Mythen polytheistischer <lb n="pwa_050.014"/> Völker: es giebt aber auch monotheistische Mythen, bei den Christen <lb n="pwa_050.015"/> wie bei den Juden und den Mohammedanern; z. B. die Legenden <lb n="pwa_050.016"/> des Mittelalters sind christliche Mythen, Göttersagen kann man sie <lb n="pwa_050.017"/> nicht nennen.</p> <p><lb n="pwa_050.018"/> Bei der Sage sucht der Mensch die Gottheit in der Geschichte <lb n="pwa_050.019"/> seines Volkes zu erkennen; er bleibt, wenn auch auf höherem Standpunkt, <lb n="pwa_050.020"/> inmitten der ihn umgebenden Wirklichkeit: im Mythus geht er <lb n="pwa_050.021"/> über diese Wirklichkeit hinaus, und seine Einbildung wagt einen <lb n="pwa_050.022"/> Schritt in die Geschichte der Gottheit selbst. In der Sage hebt er <lb n="pwa_050.023"/> den endlichen Stoff zu der unendlichen Idee hinauf: im Mythus legt <lb n="pwa_050.024"/> er an das Unendliche den Massstab der Endlichkeit und zieht so die <lb n="pwa_050.025"/> unendliche Idee herab in den endlichen Stoff. Die Sage fusst auf dem <lb n="pwa_050.026"/> Gedächtnisse: der Mythus ist, indem er Geschichten der Gottheit selber <lb n="pwa_050.027"/> erzählen will, vornehmlich auf die Phantasie angewiesen: denn hier <lb n="pwa_050.028"/> gilt es nicht, in der Vorstellung aufzufrischen, was man selbst oder <lb n="pwa_050.029"/> was die Vorfahren erlebt haben, sondern nur nach Analogie solcher <lb n="pwa_050.030"/> Bilder des Gedächtnisses ähnliche nun mit der Phantasie zu schöpfen, <lb n="pwa_050.031"/> um so die Menschengeschichte auf die Gottheit zu übertragen. Ein <lb n="pwa_050.032"/> schönes Streben: denn es wurzelt tief und fest in der aufwärts gerichteten <lb n="pwa_050.033"/> Sehnsucht und in dem Bewusstsein des Zusammenhanges zwischen <lb n="pwa_050.034"/> Gott und Menschen; aber zugleich ein höchst gefährliches: denn nur <lb n="pwa_050.035"/> zu bald muss eine so masslos ausgedehnte Vermenschlichung Gottes <lb n="pwa_050.036"/> zur Vielgötterei führen; die tausend Mythen der Inder, der Griechen, <lb n="pwa_050.037"/> der Germanen, kurz aller Völker sind nicht sowohl die Frucht und <lb n="pwa_050.038"/> Folge ihres Polytheismus als vielmehr der keimende Grund und Boden, <lb n="pwa_050.039"/> woraus der Polytheismus hervorgegangen ist. Die christliche Mythologie <lb n="pwa_050.040"/> des Mittelalters stand auch schon nahe genug am Rande der <lb n="pwa_050.041"/> Vielgötterei, und es bedurfte der Reformation, die alle Legenden über </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [50/0068]
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es sich, wo die Anschauung gestaltet wird als Mythus, als Märchen, pwa_050.002
als Thiersage. Hier ist das Vorrecht auf Seiten der Phantasie.
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Zuerst der Mythus. Wir wissen wohl, dass dieses Wort (es pwa_050.004
kommt von μύω, sich zusammenfügen) bei Homer dem Character jener pwa_050.005
Zeit gemäss, welche die Geschichte bloss mit dichterischen, nicht mit pwa_050.006
kritischen Augen betrachtete, nur noch s. v. a. Erzählung überhaupt pwa_050.007
bedeutet, seit Herodot aber dem Historiker und seit dem Lyriker pwa_050.008
Pindar dichterische und erdichtete Erzählung im Gegensatze zur historischen pwa_050.009
und historisch wahren: gleichwohl erlauben wir uns nicht ohne pwa_050.010
den Vorgang Anderer den Begriff des Mythus auf diejenige dichterische pwa_050.011
Erzählung einzuschränken, welche Thaten und Erlebnisse der Gottheit pwa_050.012
selber vorführt. Ein deutsches und besser bezeichnendes Wort ist uns pwa_050.013
nicht bekannt: Göttersage passt nur auf die Mythen polytheistischer pwa_050.014
Völker: es giebt aber auch monotheistische Mythen, bei den Christen pwa_050.015
wie bei den Juden und den Mohammedanern; z. B. die Legenden pwa_050.016
des Mittelalters sind christliche Mythen, Göttersagen kann man sie pwa_050.017
nicht nennen.
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Bei der Sage sucht der Mensch die Gottheit in der Geschichte pwa_050.019
seines Volkes zu erkennen; er bleibt, wenn auch auf höherem Standpunkt, pwa_050.020
inmitten der ihn umgebenden Wirklichkeit: im Mythus geht er pwa_050.021
über diese Wirklichkeit hinaus, und seine Einbildung wagt einen pwa_050.022
Schritt in die Geschichte der Gottheit selbst. In der Sage hebt er pwa_050.023
den endlichen Stoff zu der unendlichen Idee hinauf: im Mythus legt pwa_050.024
er an das Unendliche den Massstab der Endlichkeit und zieht so die pwa_050.025
unendliche Idee herab in den endlichen Stoff. Die Sage fusst auf dem pwa_050.026
Gedächtnisse: der Mythus ist, indem er Geschichten der Gottheit selber pwa_050.027
erzählen will, vornehmlich auf die Phantasie angewiesen: denn hier pwa_050.028
gilt es nicht, in der Vorstellung aufzufrischen, was man selbst oder pwa_050.029
was die Vorfahren erlebt haben, sondern nur nach Analogie solcher pwa_050.030
Bilder des Gedächtnisses ähnliche nun mit der Phantasie zu schöpfen, pwa_050.031
um so die Menschengeschichte auf die Gottheit zu übertragen. Ein pwa_050.032
schönes Streben: denn es wurzelt tief und fest in der aufwärts gerichteten pwa_050.033
Sehnsucht und in dem Bewusstsein des Zusammenhanges zwischen pwa_050.034
Gott und Menschen; aber zugleich ein höchst gefährliches: denn nur pwa_050.035
zu bald muss eine so masslos ausgedehnte Vermenschlichung Gottes pwa_050.036
zur Vielgötterei führen; die tausend Mythen der Inder, der Griechen, pwa_050.037
der Germanen, kurz aller Völker sind nicht sowohl die Frucht und pwa_050.038
Folge ihres Polytheismus als vielmehr der keimende Grund und Boden, pwa_050.039
woraus der Polytheismus hervorgegangen ist. Die christliche Mythologie pwa_050.040
des Mittelalters stand auch schon nahe genug am Rande der pwa_050.041
Vielgötterei, und es bedurfte der Reformation, die alle Legenden über
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