pwa_051.001 den Haufen warf, um das Verderben eben noch zur rechten Zeit abzuwenden. pwa_051.002 Die Juden waren arm an Mythen, so reich sie an Sagen pwa_051.003 waren; ja sie ermangelten der Mythen beinahe gänzlich: auch dadurch pwa_051.004 ward ihr Monotheismus bewahrt und in seiner Reinheit erhalten.
pwa_051.005 Uebrigens grenzen Mythus und Sage nah an einander und berühren pwa_051.006 und durchkreuzen sich wechselseitig auf das mannigfachste. Denn pwa_051.007 wie die Phantasie überall ihre Bilder den Bildern des Gedächtnisses pwa_051.008 nachschafft, so gestaltet sie auch die Sagen von Gott nach Analogie pwa_051.009 der Nationalsage, und da erfolgt denn leichtlich, dass Bild und Nachbild pwa_051.010 eins in das andre hinein greifen. Wer möchte bei Homer die pwa_051.011 Göttersage rein und scharf von der Heldensage absondern? Auch pwa_051.012 kann es nicht ausbleiben, und diess dient gleichfalls nur, um die pwa_051.013 Grenzen zu verwischen, dass im Verlaufe der Zeit bei immer fortschreitender pwa_051.014 Anthropomorphose Götter zu Helden herabsinken, Helden pwa_051.015 sich zum Range von Göttern erheben; dass also, was bisher Form der pwa_051.016 mythischen Anschauung gewesen, jetzo zur blossen Sage wird, und pwa_051.017 umgekehrt Gestalten der Sage in den Mythus hinüber treten. So hat pwa_051.018 z. B. der Siegfried der deutschen Heldensage in seiner Verbindung pwa_051.019 mit sagenhaften und ursprünglich historischen Personen, mit den burgundischen pwa_051.020 Königen am Rhein, und weiter hinaus mit Theodorich dem pwa_051.021 Grossen und mit Attila, selber ein ganz sagenhaftes d. h. ein halb pwa_051.022 historisches Ansehen gewonnen: im Grunde aber gehört er, wie das pwa_051.023 Lachmann überzeugend dargethan hat, dem Mythus an, er ist der pwa_051.024 Gott, welchen die nordische Mythologie Balder nennt, und was nun pwa_051.025 die Nationalsage von ihm erzählt, sind nur immer weiter vorgeschrittene pwa_051.026 Vergröberungen und Vermenschlichungen einer uralten Göttersage. pwa_051.027 Besonders dann aber werden diese beide Formen der epischen pwa_051.028 Anschauung an und in einander geschoben, wenn es gilt eine Zeit, pwa_051.029 die über alles Gedenken, auch über das Gedenken der Sage hinaus pwa_051.030 liegt, eine solche unvordenkliche Zeit dennoch mit Ereignissen auszufüllen, pwa_051.031 wie etwa die Zeit vor der Existenz des Volkes oder der pwa_051.032 aller Menschen. Da entspringen dann Kosmogonien und Theogonien pwa_051.033 und Anthropogonien, Erzählungen vom Ursprung der Welt, der Götter, pwa_051.034 der Menschen: alles das rein mythischer Art; daran aber knüpft sich pwa_051.035 alsbald und unmittelbar die Nationalsage, die poetische Geschichte des pwa_051.036 Volkes. So finden wir es z. B. bei den Juden; so auch in recht deutlicher pwa_051.037 Stufenfolge bei den Germanen. Tacitus in einer Stelle, die pwa_051.038 zugleich mit dürren Worten das schon früher angegebene Verhältniss pwa_051.039 der Sagendichtung zur Geschichte ausspricht, dass nämlich jene das pwa_051.040 Aeltere und ursprünglich allein Vorhandene sei, berichtet Germania cp. 2: pwa_051.041 "Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud illos memoriae et
pwa_051.001 den Haufen warf, um das Verderben eben noch zur rechten Zeit abzuwenden. pwa_051.002 Die Juden waren arm an Mythen, so reich sie an Sagen pwa_051.003 waren; ja sie ermangelten der Mythen beinahe gänzlich: auch dadurch pwa_051.004 ward ihr Monotheismus bewahrt und in seiner Reinheit erhalten.
pwa_051.005 Uebrigens grenzen Mythus und Sage nah an einander und berühren pwa_051.006 und durchkreuzen sich wechselseitig auf das mannigfachste. Denn pwa_051.007 wie die Phantasie überall ihre Bilder den Bildern des Gedächtnisses pwa_051.008 nachschafft, so gestaltet sie auch die Sagen von Gott nach Analogie pwa_051.009 der Nationalsage, und da erfolgt denn leichtlich, dass Bild und Nachbild pwa_051.010 eins in das andre hinein greifen. Wer möchte bei Homer die pwa_051.011 Göttersage rein und scharf von der Heldensage absondern? Auch pwa_051.012 kann es nicht ausbleiben, und diess dient gleichfalls nur, um die pwa_051.013 Grenzen zu verwischen, dass im Verlaufe der Zeit bei immer fortschreitender pwa_051.014 Anthropomorphose Götter zu Helden herabsinken, Helden pwa_051.015 sich zum Range von Göttern erheben; dass also, was bisher Form der pwa_051.016 mythischen Anschauung gewesen, jetzo zur blossen Sage wird, und pwa_051.017 umgekehrt Gestalten der Sage in den Mythus hinüber treten. So hat pwa_051.018 z. B. der Siegfried der deutschen Heldensage in seiner Verbindung pwa_051.019 mit sagenhaften und ursprünglich historischen Personen, mit den burgundischen pwa_051.020 Königen am Rhein, und weiter hinaus mit Theodorich dem pwa_051.021 Grossen und mit Attila, selber ein ganz sagenhaftes d. h. ein halb pwa_051.022 historisches Ansehen gewonnen: im Grunde aber gehört er, wie das pwa_051.023 Lachmann überzeugend dargethan hat, dem Mythus an, er ist der pwa_051.024 Gott, welchen die nordische Mythologie Balder nennt, und was nun pwa_051.025 die Nationalsage von ihm erzählt, sind nur immer weiter vorgeschrittene pwa_051.026 Vergröberungen und Vermenschlichungen einer uralten Göttersage. pwa_051.027 Besonders dann aber werden diese beide Formen der epischen pwa_051.028 Anschauung an und in einander geschoben, wenn es gilt eine Zeit, pwa_051.029 die über alles Gedenken, auch über das Gedenken der Sage hinaus pwa_051.030 liegt, eine solche unvordenkliche Zeit dennoch mit Ereignissen auszufüllen, pwa_051.031 wie etwa die Zeit vor der Existenz des Volkes oder der pwa_051.032 aller Menschen. Da entspringen dann Kosmogonien und Theogonien pwa_051.033 und Anthropogonien, Erzählungen vom Ursprung der Welt, der Götter, pwa_051.034 der Menschen: alles das rein mythischer Art; daran aber knüpft sich pwa_051.035 alsbald und unmittelbar die Nationalsage, die poetische Geschichte des pwa_051.036 Volkes. So finden wir es z. B. bei den Juden; so auch in recht deutlicher pwa_051.037 Stufenfolge bei den Germanen. Tacitus in einer Stelle, die pwa_051.038 zugleich mit dürren Worten das schon früher angegebene Verhältniss pwa_051.039 der Sagendichtung zur Geschichte ausspricht, dass nämlich jene das pwa_051.040 Aeltere und ursprünglich allein Vorhandene sei, berichtet Germania cp. 2: pwa_051.041 „Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud illos memoriae et
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den Haufen warf, um das Verderben eben noch zur rechten Zeit abzuwenden. pwa_051.002
Die Juden waren arm an Mythen, so reich sie an Sagen pwa_051.003
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Uebrigens grenzen Mythus und Sage nah an einander und berühren pwa_051.006
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Aeltere und ursprünglich allein Vorhandene sei, berichtet Germania cp. 2: pwa_051.041
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/69>, abgerufen am 21.11.2024.
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