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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Thiere, wie sie mitten inne die Sage von den Menschen erzählte; und pwa_057.002
wie man im Mythus den Göttern Namen aus der Nationalsprache lieh, pwa_057.003
so erhielten in der Thiersage auch die Thiere statt der Gattungsnamen pwa_057.004
besondre characteristische Eigennamen: die alte deutsche Thiersage pwa_057.005
weiss eigentlich von keinem Wolf, keinem Fuchs, keinem Bären mit pwa_057.006
diesen appellativen Benennungen, sondern sie giebt den Thieren pwa_057.007
Eigennamen nach Art der Menschen, z. B. Isengrim, Reinhard, pwa_057.008
Braun. Natürlich war der erfinderischen Phantasie in der Thiersage pwa_057.009
der freieste Spielraum gegeben: denn beim Mythus wiederholten pwa_057.010
sich immer und immer bald losere, bald festere Verknüpfungen pwa_057.011
mit der Sage, mit der poetischen Geschichte, also mit Anschauungen, pwa_057.012
die vorzüglich Product des Gedächtnisses sind: bei der pwa_057.013
Thiersage war dergleichen nicht wohl möglich; in sich selber trug sie pwa_057.014
auch keinen historischen Grund: die Naturbeobachtung gab wohl eine pwa_057.015
bestimmte Characterzeichnung an die Hand, aber sie führte nicht zu pwa_057.016
historischen Ereignissen, worauf man hätte bauen können. Daher pwa_057.017
grenzt die Thiersage in ihrem ganzen Wesen zunächst an das Märchen: pwa_057.018
gleich diesem hat sie, jene nationalen Namen abgerechnet, pwa_057.019
wenig nationales, so dass z. B. die Esthen, obwohl den Deutschen pwa_057.020
unverwandt, dennoch von denselben Thieren dasselbe erzählen können pwa_057.021
als die Deutschen; gleich diesem zeigt auch sie im Gefolge der phantastischen pwa_057.022
Willkür die Widersprüche des Verstandes und des Gefühls, pwa_057.023
Spott, Laune, Humor, Ironie. Das hat es denn auch späterhin nahe gelegt pwa_057.024
und leicht gemacht, die epische Thiersage zur didactischen Thierfabel pwa_057.025
umzugestalten: ursprünglich aber ist ihr die lehrhafte Richtung durchaus pwa_057.026
fremd. Denn, wie schon früher ist bemerkt worden, keine von pwa_057.027
diesen vier Gattungen epischer Anschauung, die Thierfabel so wenig pwa_057.028
als der Mythus, das Märchen so wenig als die Sage, ist irgendwo pwa_057.029
und irgendwann das Erzeugniss bewusster Absichtlichkeit; so willkürlich pwa_057.030
auch die Phantasie hier und dort verfahren mag, es ist nirgend pwa_057.031
eine gewusste Willkür; das Was und das Wie der Anschauung, beide pwa_057.032
sind das Product des unbefangen arbeitenden Kunsttriebes; es wird alles, pwa_057.033
aber nichts wird gemacht. Das gilt freilich von aller echten Poesie.

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Wir haben bisher geflissentlich jede nähere Bezeichnung des Subjectes pwa_057.035
dieser mannigfaltigen Anschauungen vermieden, um davon mehr pwa_057.036
insbesondre reden zu können.

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Da das Zeitalter der Nation, in welches die Entwickelung des pwa_057.038
Epos fällt, eben ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; pwa_057.039
da zu dieser Zeit die Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehn, pwa_057.040
sondern im Volke und durch das Volk als unabtrennbare Glieder desselben pwa_057.041
leben und wirken: so können auch die altepischen Anschauungen

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Thiere, wie sie mitten inne die Sage von den Menschen erzählte; und pwa_057.002
wie man im Mythus den Göttern Namen aus der Nationalsprache lieh, pwa_057.003
so erhielten in der Thiersage auch die Thiere statt der Gattungsnamen pwa_057.004
besondre characteristische Eigennamen: die alte deutsche Thiersage pwa_057.005
weiss eigentlich von keinem Wolf, keinem Fuchs, keinem Bären mit pwa_057.006
diesen appellativen Benennungen, sondern sie giebt den Thieren pwa_057.007
Eigennamen nach Art der Menschen, z. B. Isengrim, Reinhard, pwa_057.008
Braun. Natürlich war der erfinderischen Phantasie in der Thiersage pwa_057.009
der freieste Spielraum gegeben: denn beim Mythus wiederholten pwa_057.010
sich immer und immer bald losere, bald festere Verknüpfungen pwa_057.011
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die vorzüglich Product des Gedächtnisses sind: bei der pwa_057.013
Thiersage war dergleichen nicht wohl möglich; in sich selber trug sie pwa_057.014
auch keinen historischen Grund: die Naturbeobachtung gab wohl eine pwa_057.015
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grenzt die Thiersage in ihrem ganzen Wesen zunächst an das Märchen: pwa_057.018
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unverwandt, dennoch von denselben Thieren dasselbe erzählen können pwa_057.021
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Willkür die Widersprüche des Verstandes und des Gefühls, pwa_057.023
Spott, Laune, Humor, Ironie. Das hat es denn auch späterhin nahe gelegt pwa_057.024
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umzugestalten: ursprünglich aber ist ihr die lehrhafte Richtung durchaus pwa_057.026
fremd. Denn, wie schon früher ist bemerkt worden, keine von pwa_057.027
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auch die Phantasie hier und dort verfahren mag, es ist nirgend pwa_057.031
eine gewusste Willkür; das Was und das Wie der Anschauung, beide pwa_057.032
sind das Product des unbefangen arbeitenden Kunsttriebes; es wird alles, pwa_057.033
aber nichts wird gemacht. Das gilt freilich von aller echten Poesie.

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Wir haben bisher geflissentlich jede nähere Bezeichnung des Subjectes pwa_057.035
dieser mannigfaltigen Anschauungen vermieden, um davon mehr pwa_057.036
insbesondre reden zu können.

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Da das Zeitalter der Nation, in welches die Entwickelung des pwa_057.038
Epos fällt, eben ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; pwa_057.039
da zu dieser Zeit die Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehn, pwa_057.040
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[57/0075] pwa_057.001 Thiere, wie sie mitten inne die Sage von den Menschen erzählte; und pwa_057.002 wie man im Mythus den Göttern Namen aus der Nationalsprache lieh, pwa_057.003 so erhielten in der Thiersage auch die Thiere statt der Gattungsnamen pwa_057.004 besondre characteristische Eigennamen: die alte deutsche Thiersage pwa_057.005 weiss eigentlich von keinem Wolf, keinem Fuchs, keinem Bären mit pwa_057.006 diesen appellativen Benennungen, sondern sie giebt den Thieren pwa_057.007 Eigennamen nach Art der Menschen, z. B. Isengrim, Reinhard, pwa_057.008 Braun. Natürlich war der erfinderischen Phantasie in der Thiersage pwa_057.009 der freieste Spielraum gegeben: denn beim Mythus wiederholten pwa_057.010 sich immer und immer bald losere, bald festere Verknüpfungen pwa_057.011 mit der Sage, mit der poetischen Geschichte, also mit Anschauungen, pwa_057.012 die vorzüglich Product des Gedächtnisses sind: bei der pwa_057.013 Thiersage war dergleichen nicht wohl möglich; in sich selber trug sie pwa_057.014 auch keinen historischen Grund: die Naturbeobachtung gab wohl eine pwa_057.015 bestimmte Characterzeichnung an die Hand, aber sie führte nicht zu pwa_057.016 historischen Ereignissen, worauf man hätte bauen können. Daher pwa_057.017 grenzt die Thiersage in ihrem ganzen Wesen zunächst an das Märchen: pwa_057.018 gleich diesem hat sie, jene nationalen Namen abgerechnet, pwa_057.019 wenig nationales, so dass z. B. die Esthen, obwohl den Deutschen pwa_057.020 unverwandt, dennoch von denselben Thieren dasselbe erzählen können pwa_057.021 als die Deutschen; gleich diesem zeigt auch sie im Gefolge der phantastischen pwa_057.022 Willkür die Widersprüche des Verstandes und des Gefühls, pwa_057.023 Spott, Laune, Humor, Ironie. Das hat es denn auch späterhin nahe gelegt pwa_057.024 und leicht gemacht, die epische Thiersage zur didactischen Thierfabel pwa_057.025 umzugestalten: ursprünglich aber ist ihr die lehrhafte Richtung durchaus pwa_057.026 fremd. Denn, wie schon früher ist bemerkt worden, keine von pwa_057.027 diesen vier Gattungen epischer Anschauung, die Thierfabel so wenig pwa_057.028 als der Mythus, das Märchen so wenig als die Sage, ist irgendwo pwa_057.029 und irgendwann das Erzeugniss bewusster Absichtlichkeit; so willkürlich pwa_057.030 auch die Phantasie hier und dort verfahren mag, es ist nirgend pwa_057.031 eine gewusste Willkür; das Was und das Wie der Anschauung, beide pwa_057.032 sind das Product des unbefangen arbeitenden Kunsttriebes; es wird alles, pwa_057.033 aber nichts wird gemacht. Das gilt freilich von aller echten Poesie. pwa_057.034 Wir haben bisher geflissentlich jede nähere Bezeichnung des Subjectes pwa_057.035 dieser mannigfaltigen Anschauungen vermieden, um davon mehr pwa_057.036 insbesondre reden zu können. pwa_057.037 Da das Zeitalter der Nation, in welches die Entwickelung des pwa_057.038 Epos fällt, eben ein Zeitalter der Nation, nicht der Individuen ist; pwa_057.039 da zu dieser Zeit die Individuen noch nicht vereinzelt für sich bestehn, pwa_057.040 sondern im Volke und durch das Volk als unabtrennbare Glieder desselben pwa_057.041 leben und wirken: so können auch die altepischen Anschauungen

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/75>, abgerufen am 21.11.2024.