Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_065.001 , _ - - _ | , _ - _ - pwa_065.013 pwa_065.016 O Waidmann! wohl nicht lang lebst du, noch erreichst hohe Jahre du, pwa_065.017 Weil aus dem Reiherpaar Einen, in Liebe trunknen, du erschlugst. pwa_065.018 pwa_065.032 Dabunt malum Metelli Naevio poetae. pwa_065.033 pwa_065.035 pwa_065.001 ⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ‿ ─́ ─́ ‿ | ⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ‿ ─́ ‿ ─́ pwa_065.013 pwa_065.016 O Waidmann! wohl nicht lang lebst du, noch erreichst hohe Jahre du, pwa_065.017 Weil aus dem Reiherpaar Einen, in Liebe trunknen, du erschlugst. pwa_065.018 pwa_065.032 Dabúnt malúm Metélli Naévió poétae. pwa_065.033 pwa_065.035 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0083" n="65"/><lb n="pwa_065.001"/> für alle Poesie geltenden, und dieser besondern für das epische <lb n="pwa_065.002"/> Lied, entsprechen überall mehr oder minder vollkommen die <lb n="pwa_065.003"/> verschiedenen metrischen Formen, welche sich bei den einzelnen Völkern <lb n="pwa_065.004"/> für das epische Lied entwickelt haben. Der Vers, dessen sich <lb n="pwa_065.005"/> die altindische Epik bedient, ist das Waktra; es besteht aus 16 Silben <lb n="pwa_065.006"/> und ist in der Mitte durch einen festen Einschnitt getheilt. Jede <lb n="pwa_065.007"/> Vershälfte enthält zwei viersilbige Füsse. Im ersten und im dritten <lb n="pwa_065.008"/> Fusse können die vier Silben beliebig lang oder kurz sein: der zweite <lb n="pwa_065.009"/> Fuss dagegen ist in der Regel ein Antispast, und der vierte immer <lb n="pwa_065.010"/> ein Diiambus. Die Vereinigung zweier Verse dieser Art heisst Sloka. <lb n="pwa_065.011"/> Für das Waktra ergiebt sich also folgendes Schema:</p> <lb n="pwa_065.012"/> <p>⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ‿ ─́ ─́ ‿ | ⏒ ⏒ ⏒ ⏒, ‿ ─́ ‿ ─́</p> <p><lb n="pwa_065.013"/> Als Beispiel mögen hier die Verse jenes Einsiedlers Walmiki dienen, <lb n="pwa_065.014"/> die, wie wir früher (S. 39) gesehen, den Anlass zu dem ältesten Epos <lb n="pwa_065.015"/> der Inder, dem Ramáyana, gegeben haben:</p> <lg> <l><lb n="pwa_065.016"/> O Waidmann! wohl nicht lang lebst du, noch erreichst hohe Jahre du,</l> <l><lb n="pwa_065.017"/> Weil aus dem Reiherpaar Einen, in Liebe trunknen, du erschlugst.</l> </lg> <p><lb n="pwa_065.018"/> Wie bei den Indern das Waktra, so bei den Griechen der Hexameter: <lb n="pwa_065.019"/> der eine wie der andre Vers gross genug, um eine Fülle des Gedankens <lb n="pwa_065.020"/> und der Worte in sich zu schliessen, einfach genug, um leicht <lb n="pwa_065.021"/> vorgetragen und ebenso leicht gefasst zu werden, bewegt genug, um <lb n="pwa_065.022"/> das unaufhaltsam fortschreitende Wesen des Epos auszudrücken, und <lb n="pwa_065.023"/> veränderlich genug, um bei der beständigen Wiederholung, so wie <lb n="pwa_065.024"/> es jeweilen passlich ist, eine andre und wieder eine andre Färbung <lb n="pwa_065.025"/> anzunehmen. Das Nationalmetrum der Römer, der saturnische Vers, <lb n="pwa_065.026"/> hat mit dem der Griechen nur das Lob der Einfachheit gemein: in <lb n="pwa_065.027"/> den übrigen Stücken steht es unter ihm. Die Römer entschlugen sich <lb n="pwa_065.028"/> seiner und vertauschten es gegen den Hexameter, als sie ihre nationale <lb n="pwa_065.029"/> Poesie gegen die gräcisierende vertauschten. Auch der saturnische <lb n="pwa_065.030"/> Vers wird durch einen Einschnitt in zwei Hälften getheilt, die <lb n="pwa_065.031"/> erste derselben enthält 3½ Jamben, die zweite 3 Trochäen, z. B.</p> <lg> <l><lb n="pwa_065.032"/> Dabúnt malúm Metélli Naévió poétae.</l> </lg> <p><lb n="pwa_065.033"/> Ursprünglich aber wurde der Vers freier, wohl nur nach dem Accente <lb n="pwa_065.034"/> gebaut, und in jeder Vershälfte waren bloss die drei Hebungen gefordert.</p> <p><lb n="pwa_065.035"/> Besser genügen den gestellten Anforderungen die epischen Masse <lb n="pwa_065.036"/> der germanischen und der romanischen Völker. Die allitterierenden Verspaare <lb n="pwa_065.037"/> der Deutschen, die vierzeilige Reimstrophe, die darauf gefolgt <lb n="pwa_065.038"/> ist, und endlich die Strophe des Nibelungenliedes: alle drei Formen <lb n="pwa_065.039"/> verbinden mit dem Vorzuge der gehörigen Ausdehnung den der einfachen <lb n="pwa_065.040"/> Gleichmässigkeit des Grundrhythmus und der characteristischen <lb n="pwa_065.041"/> Veränderlichkeit, insofern die Zahl der Senkungen frei gegeben ist. </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [65/0083]
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für alle Poesie geltenden, und dieser besondern für das epische pwa_065.002
Lied, entsprechen überall mehr oder minder vollkommen die pwa_065.003
verschiedenen metrischen Formen, welche sich bei den einzelnen Völkern pwa_065.004
für das epische Lied entwickelt haben. Der Vers, dessen sich pwa_065.005
die altindische Epik bedient, ist das Waktra; es besteht aus 16 Silben pwa_065.006
und ist in der Mitte durch einen festen Einschnitt getheilt. Jede pwa_065.007
Vershälfte enthält zwei viersilbige Füsse. Im ersten und im dritten pwa_065.008
Fusse können die vier Silben beliebig lang oder kurz sein: der zweite pwa_065.009
Fuss dagegen ist in der Regel ein Antispast, und der vierte immer pwa_065.010
ein Diiambus. Die Vereinigung zweier Verse dieser Art heisst Sloka. pwa_065.011
Für das Waktra ergiebt sich also folgendes Schema:
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Als Beispiel mögen hier die Verse jenes Einsiedlers Walmiki dienen, pwa_065.014
die, wie wir früher (S. 39) gesehen, den Anlass zu dem ältesten Epos pwa_065.015
der Inder, dem Ramáyana, gegeben haben:
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O Waidmann! wohl nicht lang lebst du, noch erreichst hohe Jahre du, pwa_065.017
Weil aus dem Reiherpaar Einen, in Liebe trunknen, du erschlugst.
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Wie bei den Indern das Waktra, so bei den Griechen der Hexameter: pwa_065.019
der eine wie der andre Vers gross genug, um eine Fülle des Gedankens pwa_065.020
und der Worte in sich zu schliessen, einfach genug, um leicht pwa_065.021
vorgetragen und ebenso leicht gefasst zu werden, bewegt genug, um pwa_065.022
das unaufhaltsam fortschreitende Wesen des Epos auszudrücken, und pwa_065.023
veränderlich genug, um bei der beständigen Wiederholung, so wie pwa_065.024
es jeweilen passlich ist, eine andre und wieder eine andre Färbung pwa_065.025
anzunehmen. Das Nationalmetrum der Römer, der saturnische Vers, pwa_065.026
hat mit dem der Griechen nur das Lob der Einfachheit gemein: in pwa_065.027
den übrigen Stücken steht es unter ihm. Die Römer entschlugen sich pwa_065.028
seiner und vertauschten es gegen den Hexameter, als sie ihre nationale pwa_065.029
Poesie gegen die gräcisierende vertauschten. Auch der saturnische pwa_065.030
Vers wird durch einen Einschnitt in zwei Hälften getheilt, die pwa_065.031
erste derselben enthält 3½ Jamben, die zweite 3 Trochäen, z. B.
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Dabúnt malúm Metélli Naévió poétae.
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Ursprünglich aber wurde der Vers freier, wohl nur nach dem Accente pwa_065.034
gebaut, und in jeder Vershälfte waren bloss die drei Hebungen gefordert.
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Besser genügen den gestellten Anforderungen die epischen Masse pwa_065.036
der germanischen und der romanischen Völker. Die allitterierenden Verspaare pwa_065.037
der Deutschen, die vierzeilige Reimstrophe, die darauf gefolgt pwa_065.038
ist, und endlich die Strophe des Nibelungenliedes: alle drei Formen pwa_065.039
verbinden mit dem Vorzuge der gehörigen Ausdehnung den der einfachen pwa_065.040
Gleichmässigkeit des Grundrhythmus und der characteristischen pwa_065.041
Veränderlichkeit, insofern die Zahl der Senkungen frei gegeben ist.
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