Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_066.001 pwa_066.006 Que dulce France par nus ne seit hunie! (Chans. de Roland 1927) pwa_066.007 pwa_066.011 Ce fu a Pentecoste, une feste joiant (Haimonskinder S. 46, 25 Michelant). pwa_066.012 pwa_066.024 pwa_066.026Dass die Blinden in der Welt umherziehn, pwa_066.025 Mit Gesange Markos Thaten feiernd. (Talvj, Volksl. d. Serben 1, 244, 110 f.). pwa_066.027 pwa_066.038 pwa_066.001 pwa_066.006 Que dulce France par nus ne seit hunie! (Chans. de Roland 1927) pwa_066.007 pwa_066.011 Ce fu à Pentecoste, une feste joiant (Haimonskinder S. 46, 25 Michelant). pwa_066.012 pwa_066.024 pwa_066.026Dass die Blinden in der Welt umherziehn, pwa_066.025 Mit Gesange Markos Thaten feiernd. (Talvj, Volksl. d. Serben 1, 244, 110 f.). pwa_066.027 pwa_066.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0084" n="66"/><lb n="pwa_066.001"/> Die altepischen Verse der romanischen Völker sind der Decasyllabus <lb n="pwa_066.002"/> und der Alexandriner. Der Decasyllabus, den die Franzosen mit den <lb n="pwa_066.003"/> Provenzalen gemein haben, enthält in der ersten Hälfte vier oder fünf, <lb n="pwa_066.004"/> in der zweiten dagegen sechs oder sieben Silben, und der Accent <lb n="pwa_066.005"/> ruht jeweilen auf der vierten und auf der Reimsilbe, z. B.:</p> <lg> <l><lb n="pwa_066.006"/> Que dulce France par nus ne seit hunie! (Chans. de Roland 1927)</l> </lg> <p><lb n="pwa_066.007"/> Der Alexandriner dagegen, der ein Sohn des saturnischen und der <lb n="pwa_066.008"/> Vater des Nibelungenverses sein mag, hat in seinen beiden Hälften <lb n="pwa_066.009"/> je 6 oder 7, im Ganzen also 12–14 Silben; bei ihm ruht der Accent <lb n="pwa_066.010"/> auf der sechsten und auf der Reimsilbe, z. B.:</p> <lg> <l><lb n="pwa_066.011"/> Ce fu à Pentecoste, une feste joiant (Haimonskinder S. 46, 25 Michelant).</l> </lg> <p><lb n="pwa_066.012"/> Beide Verse stimmen darin überein, dass sie nicht paarweis gereimt <lb n="pwa_066.013"/> werden: lange Reihen von dreissig und mehr Versen (Tiraden) pflegen <lb n="pwa_066.014"/> auf Einen Reim auszulaufen, und so gross auch die durch solche <lb n="pwa_066.015"/> Tiraden noch gesteigerte Einfachheit sein mag, so sind sie doch frei <lb n="pwa_066.016"/> von Eintönigkeit, da in Bezug auf die Cäsur und auf den Wechsel <lb n="pwa_066.017"/> von Hebungen und Senkungen grosse Freiheit gegeben ist. Das nationale <lb n="pwa_066.018"/> Mass der Slawen endlich, wie wir es namentlich wieder bei den <lb n="pwa_066.019"/> Serben zu gesetzmässiger Geltung ausgeprägt finden, fünf Trochäen <lb n="pwa_066.020"/> mit einem festen Einschnitt hinter dem zweiten, möchte das mindeste <lb n="pwa_066.021"/> Lob verdienen: es ist ungeschmückt bis zur Kunstlosigkeit und so <lb n="pwa_066.022"/> einfach, dass es in der beständigen, unveränderten Wiederholung eintönig <lb n="pwa_066.023"/> wird. Auch von diesem epischen Verse mag hier ein Beispiel stehn:</p> <lg> <l><lb n="pwa_066.024"/> Dass die Blinden in der Welt umherziehn,</l> <l><lb n="pwa_066.025"/> Mit Gesange Markos Thaten feiernd.</l> </lg> <lb n="pwa_066.026"/> <p> <hi rendition="#right">(Talvj, Volksl. d. Serben 1, 244, 110 f.).</hi> </p> <p><lb n="pwa_066.027"/> Damit wäre die Schilderung des altepischen Gesanges vollendet: <lb n="pwa_066.028"/> wir haben ihn kennen gelernt als eine aus dem ganzen Volke entspringende <lb n="pwa_066.029"/> und dem ganzen Volke angehörige, durch den lebendigen <lb n="pwa_066.030"/> Gesang mittheilbare Darstellung einzelner Sagen, Mythen, Märchen <lb n="pwa_066.031"/> und Thiersagen. Es war eben so nöthig als anziehend, längere Zeit <lb n="pwa_066.032"/> dabei zu verweilen, da diess die erste Stufe nicht allein zur weiteren <lb n="pwa_066.033"/> Ausbildung der epischen, sondern überhaupt zur Ausbildung aller und <lb n="pwa_066.034"/> jeder Poesie ist; da in diesem Boden Grundlage und Grundriss für <lb n="pwa_066.035"/> alle ferneren Gestaltungen der Dichtkunst ruhen, und über ihm daher <lb n="pwa_066.036"/> die Geschichte und die Theorie derselben ihr Baugerüst aufzuschlagen <lb n="pwa_066.037"/> haben.</p> <p><lb n="pwa_066.038"/> Wohin wir in der Geschichte der Menschheit blicken, und von <lb n="pwa_066.039"/> welcher Seite wir sie in ihrer geschichtlichen Entwickelung betrachten <lb n="pwa_066.040"/> mögen, von der staatlichen, der sprachlichen oder der künstlerischen, <lb n="pwa_066.041"/> überall sehen wir sie aus der Einheit und Einigkeit und Einfachheit </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0084]
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Die altepischen Verse der romanischen Völker sind der Decasyllabus pwa_066.002
und der Alexandriner. Der Decasyllabus, den die Franzosen mit den pwa_066.003
Provenzalen gemein haben, enthält in der ersten Hälfte vier oder fünf, pwa_066.004
in der zweiten dagegen sechs oder sieben Silben, und der Accent pwa_066.005
ruht jeweilen auf der vierten und auf der Reimsilbe, z. B.:
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Que dulce France par nus ne seit hunie! (Chans. de Roland 1927)
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Der Alexandriner dagegen, der ein Sohn des saturnischen und der pwa_066.008
Vater des Nibelungenverses sein mag, hat in seinen beiden Hälften pwa_066.009
je 6 oder 7, im Ganzen also 12–14 Silben; bei ihm ruht der Accent pwa_066.010
auf der sechsten und auf der Reimsilbe, z. B.:
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Ce fu à Pentecoste, une feste joiant (Haimonskinder S. 46, 25 Michelant).
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Beide Verse stimmen darin überein, dass sie nicht paarweis gereimt pwa_066.013
werden: lange Reihen von dreissig und mehr Versen (Tiraden) pflegen pwa_066.014
auf Einen Reim auszulaufen, und so gross auch die durch solche pwa_066.015
Tiraden noch gesteigerte Einfachheit sein mag, so sind sie doch frei pwa_066.016
von Eintönigkeit, da in Bezug auf die Cäsur und auf den Wechsel pwa_066.017
von Hebungen und Senkungen grosse Freiheit gegeben ist. Das nationale pwa_066.018
Mass der Slawen endlich, wie wir es namentlich wieder bei den pwa_066.019
Serben zu gesetzmässiger Geltung ausgeprägt finden, fünf Trochäen pwa_066.020
mit einem festen Einschnitt hinter dem zweiten, möchte das mindeste pwa_066.021
Lob verdienen: es ist ungeschmückt bis zur Kunstlosigkeit und so pwa_066.022
einfach, dass es in der beständigen, unveränderten Wiederholung eintönig pwa_066.023
wird. Auch von diesem epischen Verse mag hier ein Beispiel stehn:
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Dass die Blinden in der Welt umherziehn, pwa_066.025
Mit Gesange Markos Thaten feiernd.
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(Talvj, Volksl. d. Serben 1, 244, 110 f.).
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Damit wäre die Schilderung des altepischen Gesanges vollendet: pwa_066.028
wir haben ihn kennen gelernt als eine aus dem ganzen Volke entspringende pwa_066.029
und dem ganzen Volke angehörige, durch den lebendigen pwa_066.030
Gesang mittheilbare Darstellung einzelner Sagen, Mythen, Märchen pwa_066.031
und Thiersagen. Es war eben so nöthig als anziehend, längere Zeit pwa_066.032
dabei zu verweilen, da diess die erste Stufe nicht allein zur weiteren pwa_066.033
Ausbildung der epischen, sondern überhaupt zur Ausbildung aller und pwa_066.034
jeder Poesie ist; da in diesem Boden Grundlage und Grundriss für pwa_066.035
alle ferneren Gestaltungen der Dichtkunst ruhen, und über ihm daher pwa_066.036
die Geschichte und die Theorie derselben ihr Baugerüst aufzuschlagen pwa_066.037
haben.
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Wohin wir in der Geschichte der Menschheit blicken, und von pwa_066.039
welcher Seite wir sie in ihrer geschichtlichen Entwickelung betrachten pwa_066.040
mögen, von der staatlichen, der sprachlichen oder der künstlerischen, pwa_066.041
überall sehen wir sie aus der Einheit und Einigkeit und Einfachheit
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