Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.lyrische wie das dramatische Kunstwerk war ein religiöser In der höchst wichtigen Aeußerlichkeit des religiösen lyriſche wie das dramatiſche Kunſtwerk war ein religiöſer In der höchſt wichtigen Aeußerlichkeit des religiöſen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0171" n="155"/> lyriſche wie das dramatiſche Kunſtwerk war ein <hi rendition="#g">religiöſer<lb/> Akt</hi>: bereits aber gab ſich in dieſem Akte, der urſprünglichen<lb/> einfachen religiöſen Feier gegenüber gehalten, ein gleichſam<lb/> künſtliches Beſtreben kund, nämlich das Beſtreben, willkürlich<lb/> und abſichtlich diejenige gemeinſchaftliche Erinnerung ſich vor¬<lb/> zuführen, die im gemeinen Leben an unmittelbar lebendigem<lb/> Eindrucke ſchon verloren hatte. Die Tragödie war ſomit<lb/> die zum <hi rendition="#g">Kunſtwerke</hi> gewordene religiöſe Feier, neben<lb/> welcher die herkömmlich fortgeſetzte wirkliche religiöſe<lb/> Tempelfeier nothwendig an Innigkeit und Wahrheit in<lb/> dem Grade einbüßte, daß ſie eben zur gedankenloſen her¬<lb/> kömmlichen Ceremonie wurde, während ihr Kern im Kunſt¬<lb/> werke fortlebte.</p><lb/> <p>In der höchſt wichtigen <hi rendition="#g">Aeußerlichkeit</hi> des religiöſen<lb/> Aktes ſtellt ſich die Geſchlechtsgenoſſenſchaft unter gewiſſen<lb/> altbedeutungsvollen Gebräuchen, Formen und Bekleidungen<lb/> als eine gemeinſchaftliche dar: das <hi rendition="#g">Gewand</hi> der Religion<lb/> iſt, ſo zu ſagen, die <hi rendition="#g">Tracht</hi> des Volksſtammes, an welcher<lb/> er ſich gemeinſchaftlich und auf den erſten Blick erkennt.<lb/> Dieſes, durch uraltes Herkommen geheiligte Gewand, dieſe<lb/> gewiſſermaßen religiös-geſellſchaftliche Convention hatte ſich<lb/> von der religiöſen Feier auf die künſtleriſche, die Tragödie,<lb/> übergetragen: in ihm und nach ihr gab der darſtellende<lb/> Tragöde ſich als wohlbekannte, verehrte Geſtalt der Volks¬<lb/> genoſſenſchaft kund. Keinesweges nur die Größe des<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [155/0171]
lyriſche wie das dramatiſche Kunſtwerk war ein religiöſer
Akt: bereits aber gab ſich in dieſem Akte, der urſprünglichen
einfachen religiöſen Feier gegenüber gehalten, ein gleichſam
künſtliches Beſtreben kund, nämlich das Beſtreben, willkürlich
und abſichtlich diejenige gemeinſchaftliche Erinnerung ſich vor¬
zuführen, die im gemeinen Leben an unmittelbar lebendigem
Eindrucke ſchon verloren hatte. Die Tragödie war ſomit
die zum Kunſtwerke gewordene religiöſe Feier, neben
welcher die herkömmlich fortgeſetzte wirkliche religiöſe
Tempelfeier nothwendig an Innigkeit und Wahrheit in
dem Grade einbüßte, daß ſie eben zur gedankenloſen her¬
kömmlichen Ceremonie wurde, während ihr Kern im Kunſt¬
werke fortlebte.
In der höchſt wichtigen Aeußerlichkeit des religiöſen
Aktes ſtellt ſich die Geſchlechtsgenoſſenſchaft unter gewiſſen
altbedeutungsvollen Gebräuchen, Formen und Bekleidungen
als eine gemeinſchaftliche dar: das Gewand der Religion
iſt, ſo zu ſagen, die Tracht des Volksſtammes, an welcher
er ſich gemeinſchaftlich und auf den erſten Blick erkennt.
Dieſes, durch uraltes Herkommen geheiligte Gewand, dieſe
gewiſſermaßen religiös-geſellſchaftliche Convention hatte ſich
von der religiöſen Feier auf die künſtleriſche, die Tragödie,
übergetragen: in ihm und nach ihr gab der darſtellende
Tragöde ſich als wohlbekannte, verehrte Geſtalt der Volks¬
genoſſenſchaft kund. Keinesweges nur die Größe des
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