Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

Bild:
<< vorherige Seite

schaft in ihm war eben jenes Gewand der Religion gewe¬
sen. Wie der Inhalt des gemeinsamen Mythus und der
Religion als Gegenstand der darstellenden dramatischen
Kunst nach dichterischer Deutung und Absicht, endlich nach
eigensüchtig dichterischer Willkür, bereits umgewandelt,
verwendet und gar entstellt wurde, war der religiöse
Glaube aber auch schon vollständig aus dem Leben der,
nur noch politisch mit einander verketteten Volksgenossen¬
schaft verschwunden. Dieser Glaube, die Verehrung der
Götter, die sichere Annahme von der Wahrheit der alten
Geschlechtsüberlieferungen, hatten jedoch das Band der
Gemeinsamkeit ausgemacht: war es nun zerrissen und als
Aberglaube verspottet, so war damit allerdings der unleug¬
bare Inhalt dieser Religion als unbedingter, wirklicher,
nackter Mensch zum Vorschein gekommen; dieser Mensch
war aber nicht mehr der gemeinsame, von jenem Bande
zur Geschlechtsgenossenschaft vereinte, sondern der egoi¬
stische
, absolute, einzelne Mensch, -- nackt und
schön, aber losgelöst aus dem schönen Bunde der Gemein¬
samkeit.

Von hier ab, von der Zerstörung der griechischen
Religion, von der Zertrümmerung des griechischen Natur¬
staates und seiner Auflösung in den politischen Staat,
-- von der Zersplitterung des gemeinsamen tragischen
Kunstwerkes, -- beginnt für die weltgeschichtliche Menschheit

ſchaft in ihm war eben jenes Gewand der Religion gewe¬
ſen. Wie der Inhalt des gemeinſamen Mythus und der
Religion als Gegenſtand der darſtellenden dramatiſchen
Kunſt nach dichteriſcher Deutung und Abſicht, endlich nach
eigenſüchtig dichteriſcher Willkür, bereits umgewandelt,
verwendet und gar entſtellt wurde, war der religiöſe
Glaube aber auch ſchon vollſtändig aus dem Leben der,
nur noch politiſch mit einander verketteten Volksgenoſſen¬
ſchaft verſchwunden. Dieſer Glaube, die Verehrung der
Götter, die ſichere Annahme von der Wahrheit der alten
Geſchlechtsüberlieferungen, hatten jedoch das Band der
Gemeinſamkeit ausgemacht: war es nun zerriſſen und als
Aberglaube verſpottet, ſo war damit allerdings der unleug¬
bare Inhalt dieſer Religion als unbedingter, wirklicher,
nackter Menſch zum Vorſchein gekommen; dieſer Menſch
war aber nicht mehr der gemeinſame, von jenem Bande
zur Geſchlechtsgenoſſenſchaft vereinte, ſondern der egoi¬
ſtiſche
, abſolute, einzelne Menſch, — nackt und
ſchön, aber losgelöſt aus dem ſchönen Bunde der Gemein¬
ſamkeit.

Von hier ab, von der Zerſtörung der griechiſchen
Religion, von der Zertrümmerung des griechiſchen Natur¬
ſtaates und ſeiner Auflöſung in den politiſchen Staat,
— von der Zerſplitterung des gemeinſamen tragiſchen
Kunſtwerkes, — beginnt für die weltgeſchichtliche Menſchheit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0173" n="157"/>
&#x017F;chaft in ihm war eben jenes Gewand der Religion gewe¬<lb/>
&#x017F;en. Wie der Inhalt des gemein&#x017F;amen Mythus und der<lb/>
Religion als Gegen&#x017F;tand der dar&#x017F;tellenden dramati&#x017F;chen<lb/>
Kun&#x017F;t nach dichteri&#x017F;cher Deutung und Ab&#x017F;icht, endlich nach<lb/>
eigen&#x017F;üchtig dichteri&#x017F;cher Willkür, bereits umgewandelt,<lb/>
verwendet und gar ent&#x017F;tellt wurde, war der religiö&#x017F;e<lb/>
Glaube aber auch &#x017F;chon voll&#x017F;tändig aus dem Leben der,<lb/>
nur noch politi&#x017F;ch mit einander verketteten Volksgeno&#x017F;&#x017F;en¬<lb/>
&#x017F;chaft ver&#x017F;chwunden. Die&#x017F;er Glaube, die Verehrung der<lb/>
Götter, die &#x017F;ichere Annahme von der Wahrheit der alten<lb/>
Ge&#x017F;chlechtsüberlieferungen, hatten jedoch das Band der<lb/>
Gemein&#x017F;amkeit ausgemacht: war es nun zerri&#x017F;&#x017F;en und als<lb/>
Aberglaube ver&#x017F;pottet, &#x017F;o war damit allerdings der unleug¬<lb/>
bare Inhalt die&#x017F;er Religion als unbedingter, wirklicher,<lb/>
nackter <hi rendition="#g">Men&#x017F;ch</hi> zum Vor&#x017F;chein gekommen; die&#x017F;er Men&#x017F;ch<lb/>
war aber nicht mehr der gemein&#x017F;ame, von jenem Bande<lb/>
zur Ge&#x017F;chlechtsgeno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft vereinte, &#x017F;ondern der <hi rendition="#g">egoi¬<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;che</hi>, <hi rendition="#g">ab</hi>&#x017F;<hi rendition="#g">olute</hi>, <hi rendition="#g">einzelne</hi> Men&#x017F;ch, &#x2014; nackt und<lb/>
&#x017F;chön, aber losgelö&#x017F;t aus dem &#x017F;chönen Bunde der Gemein¬<lb/>
&#x017F;amkeit.</p><lb/>
          <p>Von hier ab, von der Zer&#x017F;törung der griechi&#x017F;chen<lb/>
Religion, von der Zertrümmerung des griechi&#x017F;chen Natur¬<lb/>
&#x017F;taates und &#x017F;einer Auflö&#x017F;ung in den politi&#x017F;chen Staat,<lb/>
&#x2014; von der Zer&#x017F;plitterung des gemein&#x017F;amen tragi&#x017F;chen<lb/>
Kun&#x017F;twerkes, &#x2014; beginnt für die weltge&#x017F;chichtliche Men&#x017F;chheit<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0173] ſchaft in ihm war eben jenes Gewand der Religion gewe¬ ſen. Wie der Inhalt des gemeinſamen Mythus und der Religion als Gegenſtand der darſtellenden dramatiſchen Kunſt nach dichteriſcher Deutung und Abſicht, endlich nach eigenſüchtig dichteriſcher Willkür, bereits umgewandelt, verwendet und gar entſtellt wurde, war der religiöſe Glaube aber auch ſchon vollſtändig aus dem Leben der, nur noch politiſch mit einander verketteten Volksgenoſſen¬ ſchaft verſchwunden. Dieſer Glaube, die Verehrung der Götter, die ſichere Annahme von der Wahrheit der alten Geſchlechtsüberlieferungen, hatten jedoch das Band der Gemeinſamkeit ausgemacht: war es nun zerriſſen und als Aberglaube verſpottet, ſo war damit allerdings der unleug¬ bare Inhalt dieſer Religion als unbedingter, wirklicher, nackter Menſch zum Vorſchein gekommen; dieſer Menſch war aber nicht mehr der gemeinſame, von jenem Bande zur Geſchlechtsgenoſſenſchaft vereinte, ſondern der egoi¬ ſtiſche, abſolute, einzelne Menſch, — nackt und ſchön, aber losgelöſt aus dem ſchönen Bunde der Gemein¬ ſamkeit. Von hier ab, von der Zerſtörung der griechiſchen Religion, von der Zertrümmerung des griechiſchen Natur¬ ſtaates und ſeiner Auflöſung in den politiſchen Staat, — von der Zerſplitterung des gemeinſamen tragiſchen Kunſtwerkes, — beginnt für die weltgeſchichtliche Menſchheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/173
Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/173>, abgerufen am 04.12.2024.