Historienmaler in Stein und auf Leinwand zu bil¬ den sich mühten, das bilden sie nun an sich, an ihrer Gestalt, den Gliedern ihres Leibes, den Zügen ihres Ant¬ litzes, zu bewußtem, künstlerischem Leben. Derselbe Sinn, der den Bildhauer leitete im Begreifen und Wiedergeben der menschlichen Gestalt, leitet den Darsteller nun im Behandlen und Gebahren seines wirklichen Körpers. Das¬ selbe Auge, das den Historienmaler in Zeichnung und Farbe, bei Anordnung der Gewänder und Aufstellung der Gruppen, das Schöne, Anmuthige und Charakteristische finden ließ, ordnet nun die Fülle wirklicher mensch¬ licher Erscheinung. Bildhauer und Maler lösten vom griechischen Tragiker einst den Kothurn und die Maske, auf dem und unter welcher der wahre Mensch immer nur nach einer gewissen religiösen Convention noch sich bewegte. Mit Recht haben beide bildende Künste diese letzte Entstel¬ lung des reinen künstlerischen Menschen vernichtet, und so den tragischen Darsteller der Zukunft in Stein und auf Leinwand im Voraus gebildet. Wie sie ihn nach seiner unentstellten Wahrheit ersahen, sollen sie ihn nun in Wirk¬ lichkeit sich geben lassen, seine von ihnen gewissermaßen beschriebene Gestalt leibhaftig zur bewegungsvollen Dar¬ stellung bringen.
So wird die Täuschung der bildenden Kunst zur Wahrheit im Drama: dem Tänzer, dem Mimiker, reicht
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Hiſtorienmaler in Stein und auf Leinwand zu bil¬ den ſich mühten, das bilden ſie nun an ſich, an ihrer Geſtalt, den Gliedern ihres Leibes, den Zügen ihres Ant¬ litzes, zu bewußtem, künſtleriſchem Leben. Derſelbe Sinn, der den Bildhauer leitete im Begreifen und Wiedergeben der menſchlichen Geſtalt, leitet den Darſteller nun im Behandlen und Gebahren ſeines wirklichen Körpers. Daſ¬ ſelbe Auge, das den Hiſtorienmaler in Zeichnung und Farbe, bei Anordnung der Gewänder und Aufſtellung der Gruppen, das Schöne, Anmuthige und Charakteriſtiſche finden ließ, ordnet nun die Fülle wirklicher menſch¬ licher Erſcheinung. Bildhauer und Maler löſten vom griechiſchen Tragiker einſt den Kothurn und die Maske, auf dem und unter welcher der wahre Menſch immer nur nach einer gewiſſen religiöſen Convention noch ſich bewegte. Mit Recht haben beide bildende Künſte dieſe letzte Entſtel¬ lung des reinen künſtleriſchen Menſchen vernichtet, und ſo den tragiſchen Darſteller der Zukunft in Stein und auf Leinwand im Voraus gebildet. Wie ſie ihn nach ſeiner unentſtellten Wahrheit erſahen, ſollen ſie ihn nun in Wirk¬ lichkeit ſich geben laſſen, ſeine von ihnen gewiſſermaßen beſchriebene Geſtalt leibhaftig zur bewegungsvollen Dar¬ ſtellung bringen.
So wird die Täuſchung der bildenden Kunſt zur Wahrheit im Drama: dem Tänzer, dem Mimiker, reicht
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Hiſtorienmaler in Stein und auf Leinwand zu bil¬
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litzes, zu bewußtem, künſtleriſchem Leben. Derſelbe Sinn,
der den Bildhauer leitete im Begreifen und Wiedergeben
der menſchlichen Geſtalt, leitet den Darſteller nun im
Behandlen und Gebahren ſeines wirklichen Körpers. Daſ¬
ſelbe Auge, das den Hiſtorienmaler in Zeichnung und
Farbe, bei Anordnung der Gewänder und Aufſtellung der
Gruppen, das Schöne, Anmuthige und Charakteriſtiſche
finden ließ, ordnet nun die Fülle wirklicher menſch¬
licher Erſcheinung. Bildhauer und Maler löſten vom
griechiſchen Tragiker einſt den Kothurn und die Maske,
auf dem und unter welcher der wahre Menſch immer nur
nach einer gewiſſen religiöſen Convention noch ſich bewegte.
Mit Recht haben beide bildende Künſte dieſe letzte Entſtel¬
lung des reinen künſtleriſchen Menſchen vernichtet, und ſo
den tragiſchen Darſteller der Zukunft in Stein und auf
Leinwand im Voraus gebildet. Wie ſie ihn nach ſeiner
unentſtellten Wahrheit erſahen, ſollen ſie ihn nun in Wirk¬
lichkeit ſich geben laſſen, ſeine von ihnen gewiſſermaßen
beſchriebene Geſtalt leibhaftig zur bewegungsvollen Dar¬
ſtellung bringen.
So wird die Täuſchung der bildenden Kunſt zur
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Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/211>, abgerufen am 16.02.2025.
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