Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.das Meer der Harmonie. Das Auge erkennt nur die In dieses Meer taucht sich der Mensch, um erfrischt das Meer der Harmonie. Das Auge erkennt nur die In dieſes Meer taucht ſich der Menſch, um erfriſcht <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0087" n="71"/> das Meer der <hi rendition="#g">Harmonie</hi>. Das Auge erkennt nur die<lb/> Oberfläche dieſes Meeres: nur die Tiefe des Herzens erfaßt<lb/> ſeine Tiefe. Aus ſeinem nächtlichem Grunde herauf dehnt<lb/> es ſich zum ſonnighellen Meeresſpiegel aus: von dem einen<lb/> Ufer kreiſen auf ihm die weiter und weitergezogenen Ringe<lb/> des Rhythmus; aus den ſchattigen Thälern des andern<lb/> Ufers erhebt ſich der ſehnſuchtsvolle Lufthauch, der dieſe<lb/> ruhige Fläche zu den anmuthig ſteigenden und ſinkenden<lb/> Wellen der Melodie aufregt.</p><lb/> <p>In dieſes Meer taucht ſich der Menſch, um erfriſcht<lb/> und ſchön dem Tageslichte ſich wiederzugeben; ſein Herz<lb/> fühlt ſich wunderbar erweitert, wenn er in dieſe, aller un¬<lb/> erdenkbarſten Möglichkeiten fähige Tiefe hinabblickt, deren<lb/> Grund ſein Auge nie ermeſſen ſoll, deren Unergründlichkeit<lb/> ihn daher mit Staunen und der Ahnung des Unendlichen<lb/> erfüllt. Es iſt die Tiefe und Unendlichkeit der Natur ſelbſt,<lb/> die dem forſchenden Menſchenauge den unermeßlichen Grund<lb/> ihres ewigen Keimens, Zeugens und Sehnens verhüllt,<lb/> eben, weil das Auge nur das zur Erſcheinung Gekommene,<lb/> das Entkeimte, Gezeugte und Erſehnte erfaſſen kann. Dieſe<lb/> Natur iſt aber wiederum keine andere, als die <hi rendition="#g">Natur des<lb/> menſchlichen Herzens ſelbſt</hi>, das die Gefühle des<lb/> Liebens und Sehnens nach ihrem unendlichſten Weſen in ſich<lb/> ſchließt, das die Liebe und das Sehnen ſelbſt iſt, und —<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0087]
das Meer der Harmonie. Das Auge erkennt nur die
Oberfläche dieſes Meeres: nur die Tiefe des Herzens erfaßt
ſeine Tiefe. Aus ſeinem nächtlichem Grunde herauf dehnt
es ſich zum ſonnighellen Meeresſpiegel aus: von dem einen
Ufer kreiſen auf ihm die weiter und weitergezogenen Ringe
des Rhythmus; aus den ſchattigen Thälern des andern
Ufers erhebt ſich der ſehnſuchtsvolle Lufthauch, der dieſe
ruhige Fläche zu den anmuthig ſteigenden und ſinkenden
Wellen der Melodie aufregt.
In dieſes Meer taucht ſich der Menſch, um erfriſcht
und ſchön dem Tageslichte ſich wiederzugeben; ſein Herz
fühlt ſich wunderbar erweitert, wenn er in dieſe, aller un¬
erdenkbarſten Möglichkeiten fähige Tiefe hinabblickt, deren
Grund ſein Auge nie ermeſſen ſoll, deren Unergründlichkeit
ihn daher mit Staunen und der Ahnung des Unendlichen
erfüllt. Es iſt die Tiefe und Unendlichkeit der Natur ſelbſt,
die dem forſchenden Menſchenauge den unermeßlichen Grund
ihres ewigen Keimens, Zeugens und Sehnens verhüllt,
eben, weil das Auge nur das zur Erſcheinung Gekommene,
das Entkeimte, Gezeugte und Erſehnte erfaſſen kann. Dieſe
Natur iſt aber wiederum keine andere, als die Natur des
menſchlichen Herzens ſelbſt, das die Gefühle des
Liebens und Sehnens nach ihrem unendlichſten Weſen in ſich
ſchließt, das die Liebe und das Sehnen ſelbſt iſt, und —
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