Waiblinger, Wilhelm: Phaëthon. Bd. 1. Stuttgart, 1823.Sah'st du die Natur, wann vom heil'gen Him- O Gott, Gott! noch sind meine Augen wie Und kann ich's dir sagen? Ach kann ich denn Jch will sprechen, Theodor! ich will sprechen. Gestern Mittag saß ich vor meinem Bilde, Sah’ſt du die Natur, wann vom heil’gen Him- O Gott, Gott! noch ſind meine Augen wie Und kann ich’s dir ſagen? Ach kann ich denn Jch will ſprechen, Theodor! ich will ſprechen. Geſtern Mittag ſaß ich vor meinem Bilde, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0067" n="57"/> <p>Sah’ſt du die Natur, wann vom heil’gen Him-<lb/> mel die duͤſtern Regenwolken, wie finſt’re Traͤume<lb/> floh’n, und durch das hellzerriſſene Gewoͤlke die<lb/> Sonne wieder brach, die alte, ewigſchoͤne, und von<lb/> den Blaͤttern die Tropfen traͤufelten, wie milde<lb/> Thraͤnen, und alles, alles uͤbergoſſen war vom<lb/> Leben Einer Schoͤne? So denke dir mein Weſen.</p><lb/> <p>O Gott, Gott! noch ſind meine Augen wie<lb/> geblendet von all’ dem, was ich geſeh’n, was mich<lb/> umgeben.</p><lb/> <p>Und kann ich’s dir ſagen? Ach kann ich denn<lb/> dem Augenloſen beſchreiben das Bild der Morgen-<lb/> ſonne, wann ſie ſich erhebt uͤber die umſchleyerten<lb/> Berge wie eine Braut? Soll ich nicht ſchweigen,<lb/> wie ſie?</p><lb/> <p>Jch will ſprechen, Theodor! ich will ſprechen.</p><lb/> <p>Geſtern Mittag ſaß ich vor meinem Bilde,<lb/> und ſah es an, wie die Mutter ihr Kind. Jch<lb/> hatt’ es umkraͤnzt mit friſchen Roſen, die mir Jo-<lb/> hannes gebracht. Ein ſtiller Geiſt umwehte mich.<lb/> Jch ſchaukelte meine Seele in ſuͤßen Traͤumen auf<lb/> und ab, und dachte mich zuruͤck in die ſchoͤnen<lb/> Zeiten der Griechen. Da hoͤrt’ ich einen Wagen in<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [57/0067]
Sah’ſt du die Natur, wann vom heil’gen Him-
mel die duͤſtern Regenwolken, wie finſt’re Traͤume
floh’n, und durch das hellzerriſſene Gewoͤlke die
Sonne wieder brach, die alte, ewigſchoͤne, und von
den Blaͤttern die Tropfen traͤufelten, wie milde
Thraͤnen, und alles, alles uͤbergoſſen war vom
Leben Einer Schoͤne? So denke dir mein Weſen.
O Gott, Gott! noch ſind meine Augen wie
geblendet von all’ dem, was ich geſeh’n, was mich
umgeben.
Und kann ich’s dir ſagen? Ach kann ich denn
dem Augenloſen beſchreiben das Bild der Morgen-
ſonne, wann ſie ſich erhebt uͤber die umſchleyerten
Berge wie eine Braut? Soll ich nicht ſchweigen,
wie ſie?
Jch will ſprechen, Theodor! ich will ſprechen.
Geſtern Mittag ſaß ich vor meinem Bilde,
und ſah es an, wie die Mutter ihr Kind. Jch
hatt’ es umkraͤnzt mit friſchen Roſen, die mir Jo-
hannes gebracht. Ein ſtiller Geiſt umwehte mich.
Jch ſchaukelte meine Seele in ſuͤßen Traͤumen auf
und ab, und dachte mich zuruͤck in die ſchoͤnen
Zeiten der Griechen. Da hoͤrt’ ich einen Wagen in
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