Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891. Wendla. Warum willst du deinen lieben Eltern den Kummer bereiten! Laß dich doch confirmiren; den Kopf kostet's dich nicht. Wenn unsere schrecklichen weißen Kleider und eure Schlepphosen nicht wären, würde man sich vielleicht noch dafür begeistern können. Melchior. Es giebt keine Aufopferung! Es giebt keine Selbstlosigkeit! -- Ich sehe die Guten sich ihres Herzens freu'n, sehe die Schlechten beben und stöhnen -- ich sehe dich, Wendla Bergmann deine Locken schütteln und lachen und mir wird so ernst dabei wie einem Geächteten. -- -- Was hast du vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Grase lagst? Wendla. -- Dummheiten -- Narreteien -- Melchior. Mit offenen Augen?! Wendla. Mir träumte, ich wäre ein armes, armes Bettel- kind, ich würde früh fünf schon auf die Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen langen Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen, rohen Menschen. Und käm' ich Abends nach Hause, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte so viel Geld nicht wie mein Vater verlangt, dann würd' ich geschlagen -- geschlagen -- Melchior. Das kenne ich, Wendla. Das hast du den albernen Kindergeschichten zu danken. Glaub' mir, so brutale Menschen existiren nicht mehr. Wendla. O doch, Melchior, du irrst. -- Martha Bessel wird Abend für Abend geschlagen, daß man andern Tags Striemen sieht. O was die leiden muß! Siedendheiß wird es Einem, wenn sie erzählt. Ich bedaure sie so furchtbar, ich muß oft mitten in der Nacht in die Kissen weinen. Seit Monaten denke ich darüber nach, wie man ihr helfen kann. -- Ich wollte mit Freuden einmal acht Tage an ihrer Stelle sein. Wendla. Warum willſt du deinen lieben Eltern den Kummer bereiten! Laß dich doch confirmiren; den Kopf koſtet's dich nicht. Wenn unſere ſchrecklichen weißen Kleider und eure Schlepphoſen nicht wären, würde man ſich vielleicht noch dafür begeiſtern können. Melchior. Es giebt keine Aufopferung! Es giebt keine Selbſtloſigkeit! — Ich ſehe die Guten ſich ihres Herzens freu'n, ſehe die Schlechten beben und ſtöhnen — ich ſehe dich, Wendla Bergmann deine Locken ſchütteln und lachen und mir wird ſo ernſt dabei wie einem Geächteten. — — Was haſt du vorhin geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Graſe lagſt? Wendla. — Dummheiten — Narreteien — Melchior. Mit offenen Augen?! Wendla. Mir träumte, ich wäre ein armes, armes Bettel- kind, ich würde früh fünf ſchon auf die Straße geſchickt, ich müßte betteln den ganzen langen Tag in Sturm und Wetter, unter hartherzigen, rohen Menſchen. Und käm' ich Abends nach Hauſe, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte ſo viel Geld nicht wie mein Vater verlangt, dann würd' ich geſchlagen — geſchlagen — Melchior. Das kenne ich, Wendla. Das haſt du den albernen Kindergeſchichten zu danken. Glaub' mir, ſo brutale Menſchen exiſtiren nicht mehr. Wendla. O doch, Melchior, du irrſt. — Martha Beſſel wird Abend für Abend geſchlagen, daß man andern Tags Striemen ſieht. O was die leiden muß! Siedendheiß wird es Einem, wenn ſie erzählt. Ich bedaure ſie ſo furchtbar, ich muß oft mitten in der Nacht in die Kiſſen weinen. Seit Monaten denke ich darüber nach, wie man ihr helfen kann. — Ich wollte mit Freuden einmal acht Tage an ihrer Stelle ſein. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0038" n="22"/> <sp who="#WEN"> <speaker><hi rendition="#g">Wendla</hi>.</speaker> <p>Warum willſt du deinen lieben Eltern den<lb/> Kummer bereiten! Laß dich doch confirmiren; den Kopf koſtet's<lb/> dich nicht. Wenn unſere ſchrecklichen weißen Kleider und eure<lb/> Schlepphoſen nicht wären, würde man ſich vielleicht noch dafür<lb/> begeiſtern können.</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>Es giebt keine Aufopferung! 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Wendla. Warum willſt du deinen lieben Eltern den
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Schlepphoſen nicht wären, würde man ſich vielleicht noch dafür
begeiſtern können.
Melchior. Es giebt keine Aufopferung! Es giebt keine
Selbſtloſigkeit! — Ich ſehe die Guten ſich ihres Herzens freu'n,
ſehe die Schlechten beben und ſtöhnen — ich ſehe dich, Wendla
Bergmann deine Locken ſchütteln und lachen und mir wird ſo
ernſt dabei wie einem Geächteten. — — Was haſt du vorhin
geträumt, Wendla, als du am Goldbach im Graſe lagſt?
Wendla. — Dummheiten — Narreteien —
Melchior. Mit offenen Augen?!
Wendla. Mir träumte, ich wäre ein armes, armes Bettel-
kind, ich würde früh fünf ſchon auf die Straße geſchickt, ich
müßte betteln den ganzen langen Tag in Sturm und Wetter,
unter hartherzigen, rohen Menſchen. Und käm' ich Abends nach
Hauſe, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte ſo viel Geld
nicht wie mein Vater verlangt, dann würd' ich geſchlagen —
geſchlagen —
Melchior. Das kenne ich, Wendla. Das haſt du den
albernen Kindergeſchichten zu danken. Glaub' mir, ſo brutale
Menſchen exiſtiren nicht mehr.
Wendla. O doch, Melchior, du irrſt. — Martha Beſſel
wird Abend für Abend geſchlagen, daß man andern Tags Striemen
ſieht. O was die leiden muß! Siedendheiß wird es Einem,
wenn ſie erzählt. Ich bedaure ſie ſo furchtbar, ich muß oft mitten
in der Nacht in die Kiſſen weinen. Seit Monaten denke ich
darüber nach, wie man ihr helfen kann. — Ich wollte mit Freuden
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