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Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.

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Kriterien werden Weltanschauung, persönliches Ethos, religiöser pwe_109.002
und nationaler Gesichtspunkt genannt. Gewiß werden diese Gesichtspunkte pwe_109.003
praktisch als einzelne verwendet; es ist aber mehr als fraglich, ob auf dem pwe_109.004
Weg einer derartigen Atomisierung des "Wertes", der ja nur als Charakter pwe_109.005
des Kunstwerkes in seiner Ganzheit gelten kann, wieder ein ganzes pwe_109.006
Urteil legitimerweise zustande kommen kann. Eine Addition oder Durchschnittsberechnung pwe_109.007
der Teilurteile kann ja nicht in Frage stehen.

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Das gilt wohl auch für Petersen, der eine ähnliche Einteilung in ästhetische pwe_109.009
und außerästhetische (ethische, religiöse und volkhafte) Gesichtspunkte pwe_109.010
entwickelt; die Wertung selbst gliedert er, senkrecht dazu, in drei pwe_109.011
verschiedene Fragen, die Frage nach der Echtheit (seelische und menschlich-individuelle pwe_109.012
Bedeutung), die nach der Größe (ausstrahlende Kraft des pwe_109.013
Werkes) und die nach der Sinnbildhaftigkeit (Frage nach der pwe_109.014
Weltbeziehung und der gültigen Bedeutung des Werkes), womit er dann, pwe_109.015
mit Ordinaten und Abszissen, wieder ein hübsche Tabelle erhält. "Echtheit" pwe_109.016
und "Sinnbildhaftigkeit" sind Gesichtspunkte, die sich letztlich auf pwe_109.017
den Dichter beziehungsweise eine außerästhetische Wirklichkeit richten pwe_109.018
und damit wiederum der strengen Stilkritik nicht in den Blick kommen. pwe_109.019
Gewiß bezieht sich Dichtung schon als Sprache zum Vornherein auf Werte; pwe_109.020
aber ein Kunstwerk werten kann auch hier nicht heißen, diese Werte aufzuweisen pwe_109.021
und aufzuzählen und gegeneinander abzuwägen. Wenn schließlich pwe_109.022
H. Kromer1 es unternommen hat, auf Grund einer Fortuna-Philosophie pwe_109.023
Günther Müllers eine "normgenetische" Literaturwissenschaft zu pwe_109.024
begründen und unter Norm die Gesetzhaftigkeit meint, die sich in der Stufenordnung pwe_109.025
des Seins offenbart und vom Menschen formend verwirklicht pwe_109.026
werden will, so hat das mit "wertender Literaturwissenschaft" kaum etwas pwe_109.027
zu tun. Auch Henri Peyre2 bespricht die Frage der "Standards", die heute pwe_109.028
die Frage nach den "Rules" ersetzt hat. Ohne Systematik diskutiert er die pwe_109.029
verschiedenen üblichen "tests" der Beurteilung, um dann noch am meisten pwe_109.030
Vertrauen zu den vagen Gesichtspunkten der "energy" und "intensity" zu pwe_109.031
bekunden. Wichtig ist sein Nachweis, wie wenig die Hoffnung auf ein pwe_109.032
automatisch richtigeres Urteil der Nachwelt ist.

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Gewertet wird das einzelne Werk, eine Partie des Werkes oder eine pwe_109.034
Gruppe von Werken (Goethes Faust, eine Szene im Faust, das Werk Goethes), pwe_109.035
in jedem Fall Größen individuell-geschichtlicher Erscheinung. Es ist pwe_109.036
aber literaturwissenschaftlich sinnlos, die Größe einer Gattung oder eines

1 pwe_109.037
Helene Kromer, Vorstudien zur Frage einer wertenden Literaturwissenschaft. pwe_109.038
Diss. (Münster) Bottrop i. W. 1935.
2 pwe_109.039
Henri Peyre, Writers and their Critics. A Study of Misunderstanding. Ithaca pwe_109.040
N. Y. 1944.

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Kriterien werden Weltanschauung, persönliches Ethos, religiöser pwe_109.002
und nationaler Gesichtspunkt genannt. Gewiß werden diese Gesichtspunkte pwe_109.003
praktisch als einzelne verwendet; es ist aber mehr als fraglich, ob auf dem pwe_109.004
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des Kunstwerkes in seiner Ganzheit gelten kann, wieder ein ganzes pwe_109.006
Urteil legitimerweise zustande kommen kann. Eine Addition oder Durchschnittsberechnung pwe_109.007
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  Das gilt wohl auch für Petersen, der eine ähnliche Einteilung in ästhetische pwe_109.009
und außerästhetische (ethische, religiöse und volkhafte) Gesichtspunkte pwe_109.010
entwickelt; die Wertung selbst gliedert er, senkrecht dazu, in drei pwe_109.011
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Bedeutung), die nach der Größe (ausstrahlende Kraft des pwe_109.013
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Weltbeziehung und der gültigen Bedeutung des Werkes), womit er dann, pwe_109.015
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und „Sinnbildhaftigkeit“ sind Gesichtspunkte, die sich letztlich auf pwe_109.017
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H. Kromer1 es unternommen hat, auf Grund einer Fortuna-Philosophie pwe_109.023
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verschiedenen üblichen „tests“ der Beurteilung, um dann noch am meisten pwe_109.030
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bekunden. Wichtig ist sein Nachweis, wie wenig die Hoffnung auf ein pwe_109.032
automatisch richtigeres Urteil der Nachwelt ist.

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  Gewertet wird das einzelne Werk, eine Partie des Werkes oder eine pwe_109.034
Gruppe von Werken (Goethes Faust, eine Szene im Faust, das Werk Goethes), pwe_109.035
in jedem Fall Größen individuell-geschichtlicher Erscheinung. Es ist pwe_109.036
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1 pwe_109.037
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[109/0115] pwe_109.001 tische Kriterien werden Weltanschauung, persönliches Ethos, religiöser pwe_109.002 und nationaler Gesichtspunkt genannt. Gewiß werden diese Gesichtspunkte pwe_109.003 praktisch als einzelne verwendet; es ist aber mehr als fraglich, ob auf dem pwe_109.004 Weg einer derartigen Atomisierung des „Wertes“, der ja nur als Charakter pwe_109.005 des Kunstwerkes in seiner Ganzheit gelten kann, wieder ein ganzes pwe_109.006 Urteil legitimerweise zustande kommen kann. Eine Addition oder Durchschnittsberechnung pwe_109.007 der Teilurteile kann ja nicht in Frage stehen. pwe_109.008   Das gilt wohl auch für Petersen, der eine ähnliche Einteilung in ästhetische pwe_109.009 und außerästhetische (ethische, religiöse und volkhafte) Gesichtspunkte pwe_109.010 entwickelt; die Wertung selbst gliedert er, senkrecht dazu, in drei pwe_109.011 verschiedene Fragen, die Frage nach der Echtheit (seelische und menschlich-individuelle pwe_109.012 Bedeutung), die nach der Größe (ausstrahlende Kraft des pwe_109.013 Werkes) und die nach der Sinnbildhaftigkeit (Frage nach der pwe_109.014 Weltbeziehung und der gültigen Bedeutung des Werkes), womit er dann, pwe_109.015 mit Ordinaten und Abszissen, wieder ein hübsche Tabelle erhält. „Echtheit“ pwe_109.016 und „Sinnbildhaftigkeit“ sind Gesichtspunkte, die sich letztlich auf pwe_109.017 den Dichter beziehungsweise eine außerästhetische Wirklichkeit richten pwe_109.018 und damit wiederum der strengen Stilkritik nicht in den Blick kommen. pwe_109.019 Gewiß bezieht sich Dichtung schon als Sprache zum Vornherein auf Werte; pwe_109.020 aber ein Kunstwerk werten kann auch hier nicht heißen, diese Werte aufzuweisen pwe_109.021 und aufzuzählen und gegeneinander abzuwägen. Wenn schließlich pwe_109.022 H. Kromer 1 es unternommen hat, auf Grund einer Fortuna-Philosophie pwe_109.023 Günther Müllers eine „normgenetische“ Literaturwissenschaft zu pwe_109.024 begründen und unter Norm die Gesetzhaftigkeit meint, die sich in der Stufenordnung pwe_109.025 des Seins offenbart und vom Menschen formend verwirklicht pwe_109.026 werden will, so hat das mit „wertender Literaturwissenschaft“ kaum etwas pwe_109.027 zu tun. Auch Henri Peyre 2 bespricht die Frage der „Standards“, die heute pwe_109.028 die Frage nach den „Rules“ ersetzt hat. Ohne Systematik diskutiert er die pwe_109.029 verschiedenen üblichen „tests“ der Beurteilung, um dann noch am meisten pwe_109.030 Vertrauen zu den vagen Gesichtspunkten der „energy“ und „intensity“ zu pwe_109.031 bekunden. Wichtig ist sein Nachweis, wie wenig die Hoffnung auf ein pwe_109.032 automatisch richtigeres Urteil der Nachwelt ist. pwe_109.033   Gewertet wird das einzelne Werk, eine Partie des Werkes oder eine pwe_109.034 Gruppe von Werken (Goethes Faust, eine Szene im Faust, das Werk Goethes), pwe_109.035 in jedem Fall Größen individuell-geschichtlicher Erscheinung. Es ist pwe_109.036 aber literaturwissenschaftlich sinnlos, die Größe einer Gattung oder eines 1 pwe_109.037 Helene Kromer, Vorstudien zur Frage einer wertenden Literaturwissenschaft. pwe_109.038 Diss. (Münster) Bottrop i. W. 1935. 2 pwe_109.039 Henri Peyre, Writers and their Critics. A Study of Misunderstanding. Ithaca pwe_109.040 N. Y. 1944.

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Zitationshilfe: Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wehrli_poetik_1951/115>, abgerufen am 28.11.2024.