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Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.

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Stilaspekts zu werten: etwa den Hexameter oder das Epigramm oder die pwe_110.002
Idee der Vergänglichkeit als wertvoll bzw. minderwertig zu bezeichnen. pwe_110.003
Wertung kann im Bereich der Poetik - sofern Dichtung wirklich eine unreduzierbare pwe_110.004
Erscheinung eigenen Rechts ist - sich nur auf eine poetische pwe_110.005
Ganzheit beziehen und dann eben nur die "formale" Feststellung bedeuten, pwe_110.006
ob und in welchem Grade eine Dichtung poetische Ganzheit, d. h. Dichtung pwe_110.007
ist. Es ist das Verdienst eines kleinen Aufsatzes von Emil Staiger1, dies pwe_110.008
mit wünschenswerter Klarheit betont zu haben. Poetisch "wertvoll" ist pwe_110.009
dann nichts anderes als "schön" in einem allgemeinen, von jeder Regelpoetik pwe_110.010
freien Sinn. "Schön aber muß nun ein Kunstwerk heißen, das pwe_110.011
stilistisch einstimmig ist." "Die Einstimmigkeit wird nachgewiesen in kunstgerechter pwe_110.012
Auslegung, die alles mit allem zusammenhält: den Vers, das pwe_110.013
Motiv, die Komposition, die Idee ... den fundamentalen Rhythmus." Unvollkommen, pwe_110.014
unschön wäre die Dichtung, die nicht durchstilisiert ist, die pwe_110.015
Stilmischung ist. Die vollkommenen Stile verschiedener Werke, verschiedener pwe_110.016
Epochen dagegen können streng genommen nicht wertmäßig unterschieden pwe_110.017
werden oder höchstens nach dem Maß, in dem sie die Fülle des pwe_110.018
Lebens erschließen (z. B. nennt Staiger Shakespeare "größer" als Kleist). pwe_110.019
Man kann auch sagen: Wertmaßstab ist die Ergiebigkeit der stilistischen pwe_110.020
Interpretation.

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Gegen diese auch sonst (Wellek-Warren) hervorgehobenen Kriterien pwe_110.022
der Stimmigkeit und Dichte wäre vielleicht nur einzuwenden, daß sie so pwe_110.023
allgemein sind, daß sie wenig mehr besagen. Eine dramatische Welt z. B. pwe_110.024
muß gerade in ihrer dialektischen Widersprüchlichkeit und Unstimmigkeit pwe_110.025
als in höherem Sinne stimmig begriffen werden können; auch Auerbach pwe_110.026
spricht von Stilmischung, aber meint damit gerade eine hintergründigere, pwe_110.027
gerade in ihrer unstimmigen Offenheit wertvollere Dichtung. Ob dabei pwe_110.028
wirklich zwischen den Aspekten eine Stimmigkeit oder eine Spannung, ja pwe_110.029
Widerspruch oder Beziehungslosigkeit herrscht, wird sehr schwer entscheidbar pwe_110.030
und damit bewertbar sein. Und ebenso: was ist Fülle - wo es vielleicht pwe_110.031
um Wahl, Entscheidung und Verzicht geht? Wenn Shakespeare pwe_110.032
größer ist als Kleist, heißt das auch, daß er schöner sei, oder kommen hier pwe_110.033
doch andere Kriterien ins Spiel?

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Dieser auf seinen stilkritischen Sinn reduzierte Gebrauch des Wertbegriffs pwe_110.035
ist immer wieder als ungenügend empfunden, als Relativismus, als pwe_110.036
Haltung des l'art pour l'art bezeichnet worden. Überall dort, wo in der pwe_110.037
Interpretation das Schema von Form und Inhalt, Symbol und Ausdruck in pwe_110.038
irgendeiner Weise festgehalten wird, wird auch versucht, einer angeblich pwe_110.039
formalistischen und ästhetizistischen Wertung entgegenzutreten und entsprechend

1 pwe_110.040
Emil Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen. Trivium III (1945) 185 ff.

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Stilaspekts zu werten: etwa den Hexameter oder das Epigramm oder die pwe_110.002
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Ganzheit beziehen und dann eben nur die „formale“ Feststellung bedeuten, pwe_110.006
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freien Sinn. „Schön aber muß nun ein Kunstwerk heißen, das pwe_110.011
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Lebens erschließen (z. B. nennt Staiger Shakespeare „größer“ als Kleist). pwe_110.019
Man kann auch sagen: Wertmaßstab ist die Ergiebigkeit der stilistischen pwe_110.020
Interpretation.

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  Gegen diese auch sonst (Wellek-Warren) hervorgehobenen Kriterien pwe_110.022
der Stimmigkeit und Dichte wäre vielleicht nur einzuwenden, daß sie so pwe_110.023
allgemein sind, daß sie wenig mehr besagen. Eine dramatische Welt z. B. pwe_110.024
muß gerade in ihrer dialektischen Widersprüchlichkeit und Unstimmigkeit pwe_110.025
als in höherem Sinne stimmig begriffen werden können; auch Auerbach pwe_110.026
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gerade in ihrer unstimmigen Offenheit wertvollere Dichtung. Ob dabei pwe_110.028
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doch andere Kriterien ins Spiel?

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  Dieser auf seinen stilkritischen Sinn reduzierte Gebrauch des Wertbegriffs pwe_110.035
ist immer wieder als ungenügend empfunden, als Relativismus, als pwe_110.036
Haltung des l'art pour l'art bezeichnet worden. Überall dort, wo in der pwe_110.037
Interpretation das Schema von Form und Inhalt, Symbol und Ausdruck in pwe_110.038
irgendeiner Weise festgehalten wird, wird auch versucht, einer angeblich pwe_110.039
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[110/0116] pwe_110.001 Stilaspekts zu werten: etwa den Hexameter oder das Epigramm oder die pwe_110.002 Idee der Vergänglichkeit als wertvoll bzw. minderwertig zu bezeichnen. pwe_110.003 Wertung kann im Bereich der Poetik – sofern Dichtung wirklich eine unreduzierbare pwe_110.004 Erscheinung eigenen Rechts ist – sich nur auf eine poetische pwe_110.005 Ganzheit beziehen und dann eben nur die „formale“ Feststellung bedeuten, pwe_110.006 ob und in welchem Grade eine Dichtung poetische Ganzheit, d. h. Dichtung pwe_110.007 ist. Es ist das Verdienst eines kleinen Aufsatzes von Emil Staiger 1, dies pwe_110.008 mit wünschenswerter Klarheit betont zu haben. Poetisch „wertvoll“ ist pwe_110.009 dann nichts anderes als „schön“ in einem allgemeinen, von jeder Regelpoetik pwe_110.010 freien Sinn. „Schön aber muß nun ein Kunstwerk heißen, das pwe_110.011 stilistisch einstimmig ist.“ „Die Einstimmigkeit wird nachgewiesen in kunstgerechter pwe_110.012 Auslegung, die alles mit allem zusammenhält: den Vers, das pwe_110.013 Motiv, die Komposition, die Idee ... den fundamentalen Rhythmus.“ Unvollkommen, pwe_110.014 unschön wäre die Dichtung, die nicht durchstilisiert ist, die pwe_110.015 Stilmischung ist. Die vollkommenen Stile verschiedener Werke, verschiedener pwe_110.016 Epochen dagegen können streng genommen nicht wertmäßig unterschieden pwe_110.017 werden oder höchstens nach dem Maß, in dem sie die Fülle des pwe_110.018 Lebens erschließen (z. B. nennt Staiger Shakespeare „größer“ als Kleist). pwe_110.019 Man kann auch sagen: Wertmaßstab ist die Ergiebigkeit der stilistischen pwe_110.020 Interpretation. pwe_110.021   Gegen diese auch sonst (Wellek-Warren) hervorgehobenen Kriterien pwe_110.022 der Stimmigkeit und Dichte wäre vielleicht nur einzuwenden, daß sie so pwe_110.023 allgemein sind, daß sie wenig mehr besagen. Eine dramatische Welt z. B. pwe_110.024 muß gerade in ihrer dialektischen Widersprüchlichkeit und Unstimmigkeit pwe_110.025 als in höherem Sinne stimmig begriffen werden können; auch Auerbach pwe_110.026 spricht von Stilmischung, aber meint damit gerade eine hintergründigere, pwe_110.027 gerade in ihrer unstimmigen Offenheit wertvollere Dichtung. Ob dabei pwe_110.028 wirklich zwischen den Aspekten eine Stimmigkeit oder eine Spannung, ja pwe_110.029 Widerspruch oder Beziehungslosigkeit herrscht, wird sehr schwer entscheidbar pwe_110.030 und damit bewertbar sein. Und ebenso: was ist Fülle – wo es vielleicht pwe_110.031 um Wahl, Entscheidung und Verzicht geht? Wenn Shakespeare pwe_110.032 größer ist als Kleist, heißt das auch, daß er schöner sei, oder kommen hier pwe_110.033 doch andere Kriterien ins Spiel? pwe_110.034   Dieser auf seinen stilkritischen Sinn reduzierte Gebrauch des Wertbegriffs pwe_110.035 ist immer wieder als ungenügend empfunden, als Relativismus, als pwe_110.036 Haltung des l'art pour l'art bezeichnet worden. Überall dort, wo in der pwe_110.037 Interpretation das Schema von Form und Inhalt, Symbol und Ausdruck in pwe_110.038 irgendeiner Weise festgehalten wird, wird auch versucht, einer angeblich pwe_110.039 formalistischen und ästhetizistischen Wertung entgegenzutreten und entsprechend 1 pwe_110.040 Emil Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen. Trivium III (1945) 185 ff.

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Zitationshilfe: Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wehrli_poetik_1951/116>, abgerufen am 28.11.2024.