Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.
pwe_157.001 Das zusammenhängende Ausdruckssystem stellt eine künstlerische Grammatik pwe_157.018 Es ist eine großartige Lektion, die Curtius damit einer neuen Literarhistorie pwe_157.037
pwe_157.001 Das zusammenhängende Ausdruckssystem stellt eine künstlerische Grammatik pwe_157.018 Es ist eine großartige Lektion, die Curtius damit einer neuen Literarhistorie pwe_157.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0163" n="157"/><lb n="pwe_157.001"/> teratur</hi> ist nicht einfach die Summe der nationalen Literaturen, sie ist <lb n="pwe_157.002"/> auch nicht die virtuelle, über den nationalen Literaturen schwebende Idee <lb n="pwe_157.003"/> Europas, wie sie die vergleichende Literaturwissenschaft als Gespräch und <lb n="pwe_157.004"/> Beziehung zwischen den verschiedenen nationalen Ausprägungen verfolgt, <lb n="pwe_157.005"/> sie ist vielmehr die <hi rendition="#i">eine</hi> und konkrete, exakt nachweisbare Einheit, ein wirklicher <lb n="pwe_157.006"/> literarischer „Geschichtskörper“. Europäische Literatur tritt damit <lb n="pwe_157.007"/> stärker als bisher als fest umrissener Gegenstand der vagen Gesamtheit der <lb n="pwe_157.008"/> „Weltliteratur“ gegenüber. Es ist die von Homer bis Hofmannsthal real und <lb n="pwe_157.009"/> ausschließlich gesprochene künstlerische Sprache, deren bestimmtes symbolisches <lb n="pwe_157.010"/> Zeichensystem <hi rendition="#k">Curtius</hi> aufzuzeigen versucht. Den Schlüssel zu diesem <lb n="pwe_157.011"/> traditionellen Ausdruckssystem findet er nun in der mittellateinischen Literatur, <lb n="pwe_157.012"/> in der wie in einem Sammelbecken die antike Tradition zusammenkommt <lb n="pwe_157.013"/> und aus der dann, neben erneuten direkten Zuflüssen aus der Antike, <lb n="pwe_157.014"/> die abendländischen Literaturen bis zur neueren Zeit hinab gespeist werden. <lb n="pwe_157.015"/> Diese durchgehende antik-abendländische Konstanz aber läßt sich nun <lb n="pwe_157.016"/> nach <hi rendition="#k">Curtius</hi> „exakt“ bestimmen und verfolgen.</p> <lb n="pwe_157.017"/> <p> Das zusammenhängende Ausdruckssystem stellt eine künstlerische Grammatik <lb n="pwe_157.018"/> aus Formen und Formeln dar und bildet den unentbehrlichen Anhalt, <lb n="pwe_157.019"/> an dem sich poetische Substanz erst kristallisieren kann. <hi rendition="#k">Curtius</hi> entwickelt <lb n="pwe_157.020"/> dieses Formelbuch als eine Art <hi rendition="#i">Rhetorica nova</hi> – er sammelt einen bestimmten <lb n="pwe_157.021"/> Bestand rhetorischer Form- und Motivelemente, sog. <hi rendition="#i">Topoi</hi> (z. B. <lb n="pwe_157.022"/> die Typik des Helden und Herrschers oder des Naturbildes, die Schauspiel- <lb n="pwe_157.023"/> oder die Buchmetapher, die Devotions-, Exordial- und Schlußtopik des <lb n="pwe_157.024"/> literarischen Werks). Es gibt dabei keinen Unterschied zwischen vornehmen <lb n="pwe_157.025"/> und verächtlichen Traditionselementen, denn sie gehören alle zum System. <lb n="pwe_157.026"/> Die Tradition dieser Formen ist nun auf verschiedene Weise gewährleistet. <lb n="pwe_157.027"/> Am wichtigsten ist die Bindung an das Bildungswesen, wie es vor allem in <lb n="pwe_157.028"/> der mittelalterlichen Schule mit ihrem eigentümlichen Unterricht in der <lb n="pwe_157.029"/> literarischen Kunst zu verfolgen ist; es gibt die bloße Nachahmung und die <lb n="pwe_157.030"/> produktive Weiterbildung; es gibt die revoltierende Auseinandersetzung <lb n="pwe_157.031"/> oder ein apathisches Verhalten; es gibt den unmittelbaren Anschluß oder <lb n="pwe_157.032"/> das Rückgreifen auf entlegene Bestände zurückliegender Jahrhunderte. <lb n="pwe_157.033"/> <hi rendition="#k">Curtius</hi> wirft so den Gedanken einer „Morphologie der Tradition“ als Forschungsaufgabe <lb n="pwe_157.034"/> auf. Je nach der Differenzierung der Traditionsart ergeben <lb n="pwe_157.035"/> sich Gliederungen des literaturgeschichtlichen Zusammenhangs.</p> <lb n="pwe_157.036"/> <p> Es ist eine großartige Lektion, die <hi rendition="#k">Curtius</hi> damit einer neuen Literarhistorie <lb n="pwe_157.037"/> auf den Weg gibt. Die Frage ist, wie weit sie wirklich trägt. Zwei <lb n="pwe_157.038"/> Punkte bedürfen der Diskussion: erstens das Problem des „Schöpferischen“, <lb n="pwe_157.039"/> Ursprünglichen und seines Eingreifens in den Traditionszusammenhang und <lb n="pwe_157.040"/> zweitens die Frage, ob dieser Traditionszusammenhang materiell ausreichend <lb n="pwe_157.041"/> bestimmt ist.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [157/0163]
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teratur ist nicht einfach die Summe der nationalen Literaturen, sie ist pwe_157.002
auch nicht die virtuelle, über den nationalen Literaturen schwebende Idee pwe_157.003
Europas, wie sie die vergleichende Literaturwissenschaft als Gespräch und pwe_157.004
Beziehung zwischen den verschiedenen nationalen Ausprägungen verfolgt, pwe_157.005
sie ist vielmehr die eine und konkrete, exakt nachweisbare Einheit, ein wirklicher pwe_157.006
literarischer „Geschichtskörper“. Europäische Literatur tritt damit pwe_157.007
stärker als bisher als fest umrissener Gegenstand der vagen Gesamtheit der pwe_157.008
„Weltliteratur“ gegenüber. Es ist die von Homer bis Hofmannsthal real und pwe_157.009
ausschließlich gesprochene künstlerische Sprache, deren bestimmtes symbolisches pwe_157.010
Zeichensystem Curtius aufzuzeigen versucht. Den Schlüssel zu diesem pwe_157.011
traditionellen Ausdruckssystem findet er nun in der mittellateinischen Literatur, pwe_157.012
in der wie in einem Sammelbecken die antike Tradition zusammenkommt pwe_157.013
und aus der dann, neben erneuten direkten Zuflüssen aus der Antike, pwe_157.014
die abendländischen Literaturen bis zur neueren Zeit hinab gespeist werden. pwe_157.015
Diese durchgehende antik-abendländische Konstanz aber läßt sich nun pwe_157.016
nach Curtius „exakt“ bestimmen und verfolgen.
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Das zusammenhängende Ausdruckssystem stellt eine künstlerische Grammatik pwe_157.018
aus Formen und Formeln dar und bildet den unentbehrlichen Anhalt, pwe_157.019
an dem sich poetische Substanz erst kristallisieren kann. Curtius entwickelt pwe_157.020
dieses Formelbuch als eine Art Rhetorica nova – er sammelt einen bestimmten pwe_157.021
Bestand rhetorischer Form- und Motivelemente, sog. Topoi (z. B. pwe_157.022
die Typik des Helden und Herrschers oder des Naturbildes, die Schauspiel- pwe_157.023
oder die Buchmetapher, die Devotions-, Exordial- und Schlußtopik des pwe_157.024
literarischen Werks). Es gibt dabei keinen Unterschied zwischen vornehmen pwe_157.025
und verächtlichen Traditionselementen, denn sie gehören alle zum System. pwe_157.026
Die Tradition dieser Formen ist nun auf verschiedene Weise gewährleistet. pwe_157.027
Am wichtigsten ist die Bindung an das Bildungswesen, wie es vor allem in pwe_157.028
der mittelalterlichen Schule mit ihrem eigentümlichen Unterricht in der pwe_157.029
literarischen Kunst zu verfolgen ist; es gibt die bloße Nachahmung und die pwe_157.030
produktive Weiterbildung; es gibt die revoltierende Auseinandersetzung pwe_157.031
oder ein apathisches Verhalten; es gibt den unmittelbaren Anschluß oder pwe_157.032
das Rückgreifen auf entlegene Bestände zurückliegender Jahrhunderte. pwe_157.033
Curtius wirft so den Gedanken einer „Morphologie der Tradition“ als Forschungsaufgabe pwe_157.034
auf. Je nach der Differenzierung der Traditionsart ergeben pwe_157.035
sich Gliederungen des literaturgeschichtlichen Zusammenhangs.
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Es ist eine großartige Lektion, die Curtius damit einer neuen Literarhistorie pwe_157.037
auf den Weg gibt. Die Frage ist, wie weit sie wirklich trägt. Zwei pwe_157.038
Punkte bedürfen der Diskussion: erstens das Problem des „Schöpferischen“, pwe_157.039
Ursprünglichen und seines Eingreifens in den Traditionszusammenhang und pwe_157.040
zweitens die Frage, ob dieser Traditionszusammenhang materiell ausreichend pwe_157.041
bestimmt ist.
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