Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_066.001 Wenn der Begriff des Stils im Sinne von Werkstil verwendet wird, so pwe_066.040 pwe_066.001 Wenn der Begriff des Stils im Sinne von Werkstil verwendet wird, so pwe_066.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0072" n="66"/><lb n="pwe_066.001"/> gegensätzlicher Möglichkeiten abendländischen Stils. <hi rendition="#k">Auerbachs</hi> Werk ist <lb n="pwe_066.002"/> sicher eine der bedeutendsten, anregendsten Publikationen der letzten <lb n="pwe_066.003"/> Jahre. Sie ist für die moderne Methode kennzeichnend, indem sie aus 19 <lb n="pwe_066.004"/> von einander unabhängigen Interpretationen von Texten aus zwei europäischen <lb n="pwe_066.005"/> Jahrtausenden besteht, in chronologischer Anordnung, entstanden <lb n="pwe_066.006"/> im freien „Spiel mit dem Text“, geleitet „von einigen allmählich und absichtslos <lb n="pwe_066.007"/> erarbeiteten Motiven“. Die reichen und hellhörigen, meister- und <lb n="pwe_066.008"/> musterhaften Beispiele moderner Interpretationskunst gelten an sich dem <lb n="pwe_066.009"/> Stil im allgemeinsten Sinne. Dieser Stil wird nun aber näher gefaßt als <lb n="pwe_066.010"/> „<hi rendition="#i">Wirklichkeitsdarstellung</hi>“<hi rendition="#i">;</hi> das Buch gilt dem Problem und der Geschichte <lb n="pwe_066.011"/> des Realismus. Realismus aber – und hier sind Mißverständnisse möglich <lb n="pwe_066.012"/> – nicht im herkömmlichen Sinn eines bestimmten, etwa durch Sachnähe <lb n="pwe_066.013"/> und rohe Stofflichkeit ausgezeichneten Literaturstils, nicht als realistische <lb n="pwe_066.014"/> „Nachahmung“ (trotz des etwas fragwürdigen Titels „Mimesis“), sondern <lb n="pwe_066.015"/> als jeweilige „Interpretation der Wirklichkeit“, als der aller Thematisierung <lb n="pwe_066.016"/> vorausliegende Entwurf des Stils. Dies ist wohl auch der Grund, <lb n="pwe_066.017"/> warum sich <hi rendition="#k">Auerbach</hi> ausdrücklich nicht auf eine Diskussion des Begriffes <lb n="pwe_066.018"/> Realismus einlassen will. Nur gelegentlich und nachträglich deutet Auerbach <lb n="pwe_066.019"/> denn auch eine Systematik an, unter der nun die Verschiedenheit der <lb n="pwe_066.020"/> ausgelegten Stile zu sehen ist: statt <hi rendition="#k">Lugowskis</hi> romanisch-germanischer Typologie <lb n="pwe_066.021"/> ist es ein der europäischen Gegebenheit zweifellos angepaßteres <lb n="pwe_066.022"/> Gegenüber von antiker und christlicher Welt. Es sind zwei sich beständig <lb n="pwe_066.023"/> auseinandersetzende oder verbindende Stiltraditionen, die die abendländische <lb n="pwe_066.024"/> Literatur bestimmen: eine <hi rendition="#i">stiltrennende,</hi> d. h. bestimmte Höhenlagen <lb n="pwe_066.025"/> unterscheidende und reine Formen erstrebende Tradition, und eine <lb n="pwe_066.026"/> im wesentlichen christliche <hi rendition="#i">stilmischende</hi> Tradition, die keine Unterscheidung <lb n="pwe_066.027"/> zwischen niederen und hohen Gegenständen und Formen kennt und <lb n="pwe_066.028"/> auch im Alltäglichsten und Verächtlichsten das Hintergründige und Erhabene <lb n="pwe_066.029"/> durchbrechen sieht (im Mittelalter läßt sie sich als „figuraler“ Stil <lb n="pwe_066.030"/> bestimmen). Trotz seiner ausdrücklichen Beschränkung auf zufällige Texte <lb n="pwe_066.031"/> und deren in sich ruhende Interpretation setzt <hi rendition="#k">Auerbach</hi> also eine systematische <lb n="pwe_066.032"/> Typologie voraus, ja er gibt mit der zeitlichen Reihung auch eine <lb n="pwe_066.033"/> Geschichte der europäischen Wirklichkeit. Man mag sich darum gerade hier <lb n="pwe_066.034"/> fragen, ob diese Bescheidenheit des Stilkritikers nicht eine falsche ist, ob <lb n="pwe_066.035"/> nicht der systematische wie der historische Zusammenhang eine explizitere <lb n="pwe_066.036"/> Darstellung erfordert hätten; die moderne, etwas preziöse Angst vor <lb n="pwe_066.037"/> Systembildung scheint nicht gerechtfertigt, wenn ein – dafür reichlich <lb n="pwe_066.038"/> rohes – Schema eben doch vorhanden ist.</p> <lb n="pwe_066.039"/> <p> Wenn der Begriff des Stils im Sinne von Werkstil verwendet wird, so <lb n="pwe_066.040"/> ist dies eine Einschränkung oder gar Umdeutung der meistens üblichen <lb n="pwe_066.041"/> andern Verwendung (als Epochenstil oder als „äußere Form“ [<hi rendition="#k">Erma- </hi></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [66/0072]
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gegensätzlicher Möglichkeiten abendländischen Stils. Auerbachs Werk ist pwe_066.002
sicher eine der bedeutendsten, anregendsten Publikationen der letzten pwe_066.003
Jahre. Sie ist für die moderne Methode kennzeichnend, indem sie aus 19 pwe_066.004
von einander unabhängigen Interpretationen von Texten aus zwei europäischen pwe_066.005
Jahrtausenden besteht, in chronologischer Anordnung, entstanden pwe_066.006
im freien „Spiel mit dem Text“, geleitet „von einigen allmählich und absichtslos pwe_066.007
erarbeiteten Motiven“. Die reichen und hellhörigen, meister- und pwe_066.008
musterhaften Beispiele moderner Interpretationskunst gelten an sich dem pwe_066.009
Stil im allgemeinsten Sinne. Dieser Stil wird nun aber näher gefaßt als pwe_066.010
„Wirklichkeitsdarstellung“; das Buch gilt dem Problem und der Geschichte pwe_066.011
des Realismus. Realismus aber – und hier sind Mißverständnisse möglich pwe_066.012
– nicht im herkömmlichen Sinn eines bestimmten, etwa durch Sachnähe pwe_066.013
und rohe Stofflichkeit ausgezeichneten Literaturstils, nicht als realistische pwe_066.014
„Nachahmung“ (trotz des etwas fragwürdigen Titels „Mimesis“), sondern pwe_066.015
als jeweilige „Interpretation der Wirklichkeit“, als der aller Thematisierung pwe_066.016
vorausliegende Entwurf des Stils. Dies ist wohl auch der Grund, pwe_066.017
warum sich Auerbach ausdrücklich nicht auf eine Diskussion des Begriffes pwe_066.018
Realismus einlassen will. Nur gelegentlich und nachträglich deutet Auerbach pwe_066.019
denn auch eine Systematik an, unter der nun die Verschiedenheit der pwe_066.020
ausgelegten Stile zu sehen ist: statt Lugowskis romanisch-germanischer Typologie pwe_066.021
ist es ein der europäischen Gegebenheit zweifellos angepaßteres pwe_066.022
Gegenüber von antiker und christlicher Welt. Es sind zwei sich beständig pwe_066.023
auseinandersetzende oder verbindende Stiltraditionen, die die abendländische pwe_066.024
Literatur bestimmen: eine stiltrennende, d. h. bestimmte Höhenlagen pwe_066.025
unterscheidende und reine Formen erstrebende Tradition, und eine pwe_066.026
im wesentlichen christliche stilmischende Tradition, die keine Unterscheidung pwe_066.027
zwischen niederen und hohen Gegenständen und Formen kennt und pwe_066.028
auch im Alltäglichsten und Verächtlichsten das Hintergründige und Erhabene pwe_066.029
durchbrechen sieht (im Mittelalter läßt sie sich als „figuraler“ Stil pwe_066.030
bestimmen). Trotz seiner ausdrücklichen Beschränkung auf zufällige Texte pwe_066.031
und deren in sich ruhende Interpretation setzt Auerbach also eine systematische pwe_066.032
Typologie voraus, ja er gibt mit der zeitlichen Reihung auch eine pwe_066.033
Geschichte der europäischen Wirklichkeit. Man mag sich darum gerade hier pwe_066.034
fragen, ob diese Bescheidenheit des Stilkritikers nicht eine falsche ist, ob pwe_066.035
nicht der systematische wie der historische Zusammenhang eine explizitere pwe_066.036
Darstellung erfordert hätten; die moderne, etwas preziöse Angst vor pwe_066.037
Systembildung scheint nicht gerechtfertigt, wenn ein – dafür reichlich pwe_066.038
rohes – Schema eben doch vorhanden ist.
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Wenn der Begriff des Stils im Sinne von Werkstil verwendet wird, so pwe_066.040
ist dies eine Einschränkung oder gar Umdeutung der meistens üblichen pwe_066.041
andern Verwendung (als Epochenstil oder als „äußere Form“ [Erma-
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