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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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schwatzhaft, jeder Selbstbeherrschung und Kritik beraubt. Dem-
gemäss bleibt Beckmann mitten im Satze stecken und ringt nach
Ausdruck, Kunschkel ersetzt das Fehlende durch unsinnige Wörter
oder neue Combinationen von Sylben und hat die Genugthuung,
den Satz geschlossen zu haben; auch er macht Versuche sich zu
corrigiren, aber nur schwächliche. Bei beiden besteht dieselbe
Art der Alexie, und ihre Agraphie ist weit bedeutender als ihre
Aphasie und Alexie. Kunschkel ist mir ausserdem sehr verdäch-
tig, auch eine rechtsseitige Hemiopie gehabt zu haben; letzteres
würde die Analogie der beiden Fälle, welche in anatomischen
Thatsachen ihren Grund haben muss, noch unzweifelhafter machen.

Oben wurde ausgesprochen, dass Leitungsaphasie nicht Ur-
sache der Alexie sein könne, (mit Ausnahme der Buchstaben),
wenigstens nicht bei gebildeten Leuten. Beckmann scheint davon
eine Ausnahme zu machen. Der Zustand Beckmann's aber, und
wahrscheinlich auch Kunschkel's, ist durch rechtsseitige Hemiopie
complicirt; ohne diese würde Beckmann ohne jede Beschwerde
Alles lesen können. Beweis dafür ist der Umstand, dass er that-
sächlich sehr Vieles zu lesen im Stande ist, aber nur im Vorbei-
gehen, wenn er es nicht fixirt. Das fixirte Wort ist ja für ihn
nur halb vorhanden, es kann daher keinen bestimmten Begriff in
ihm wachrufen. Die Fähigkeit aber, das Wort aus seinen ein-
zelnen Buchstaben zusammenzusetzen, geht ihm ab. Ein sehr
frappantes Beispiel seiner virtuellen Fähigkeit zu lesen war mir,
ausser dem schon oben erzählten von Goethe, die Art, wie er ein
Recept überflog. Er hatte kaum einen Blick darauf geworfen,
als er sagte: Hier dieses Wort heisst Aloe; dicht darunter die
Coloquinten konnte er trotz aller Mühe nicht enträthseln. Er
hatte in dem Augenblicke vielleicht unwillkürlich rückwärts ge-
lesen, oder mit peripherischen Theilen der Netzhaut, welche ihm
noch einen Spielraum nach rechts hin gestatteten.

Die schnell zunehmende Beschränkung des Gesichtsfeldes,
während die Aphasie sich zu bessern schien, sprach zuerst dafür,
dass ein progressiver Process nicht die Inselgegend selbst, sondern
ein in der Nähe befindliches Gebilde, (wahrscheinlich den linken
Tractus opticus*) befallen hat, welches die Function der linken

*) Der Schluss auf den linken Tractus opticus ist dann nicht gestattet
wenn eine vollkommene Kreuzung im Chiasma stattfindet. Es muss dann der
hintere Winkel des Chiasma in Aussicht genommen werden.

schwatzhaft, jeder Selbstbeherrschung und Kritik beraubt. Dem-
gemäss bleibt Beckmann mitten im Satze stecken und ringt nach
Ausdruck, Kunschkel ersetzt das Fehlende durch unsinnige Wörter
oder neue Combinationen von Sylben und hat die Genugthuung,
den Satz geschlossen zu haben; auch er macht Versuche sich zu
corrigiren, aber nur schwächliche. Bei beiden besteht dieselbe
Art der Alexie, und ihre Agraphie ist weit bedeutender als ihre
Aphasie und Alexie. Kunschkel ist mir ausserdem sehr verdäch-
tig, auch eine rechtsseitige Hemiopie gehabt zu haben; letzteres
würde die Analogie der beiden Fälle, welche in anatomischen
Thatsachen ihren Grund haben muss, noch unzweifelhafter machen.

Oben wurde ausgesprochen, dass Leitungsaphasie nicht Ur-
sache der Alexie sein könne, (mit Ausnahme der Buchstaben),
wenigstens nicht bei gebildeten Leuten. Beckmann scheint davon
eine Ausnahme zu machen. Der Zustand Beckmann’s aber, und
wahrscheinlich auch Kunschkel’s, ist durch rechtsseitige Hemiopie
complicirt; ohne diese würde Beckmann ohne jede Beschwerde
Alles lesen können. Beweis dafür ist der Umstand, dass er that-
sächlich sehr Vieles zu lesen im Stande ist, aber nur im Vorbei-
gehen, wenn er es nicht fixirt. Das fixirte Wort ist ja für ihn
nur halb vorhanden, es kann daher keinen bestimmten Begriff in
ihm wachrufen. Die Fähigkeit aber, das Wort aus seinen ein-
zelnen Buchstaben zusammenzusetzen, geht ihm ab. Ein sehr
frappantes Beispiel seiner virtuellen Fähigkeit zu lesen war mir,
ausser dem schon oben erzählten von Goethe, die Art, wie er ein
Recept überflog. Er hatte kaum einen Blick darauf geworfen,
als er sagte: Hier dieses Wort heisst Aloë; dicht darunter die
Coloquinten konnte er trotz aller Mühe nicht enträthseln. Er
hatte in dem Augenblicke vielleicht unwillkürlich rückwärts ge-
lesen, oder mit peripherischen Theilen der Netzhaut, welche ihm
noch einen Spielraum nach rechts hin gestatteten.

Die schnell zunehmende Beschränkung des Gesichtsfeldes,
während die Aphasie sich zu bessern schien, sprach zuerst dafür,
dass ein progressiver Process nicht die Inselgegend selbst, sondern
ein in der Nähe befindliches Gebilde, (wahrscheinlich den linken
Tractus opticus*) befallen hat, welches die Function der linken

*) Der Schluss auf den linken Tractus opticus ist dann nicht gestattet
wenn eine vollkommene Kreuzung im Chiasma stattfindet. Es muss dann der
hintere Winkel des Chiasma in Aussicht genommen werden.
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[53/0057] schwatzhaft, jeder Selbstbeherrschung und Kritik beraubt. Dem- gemäss bleibt Beckmann mitten im Satze stecken und ringt nach Ausdruck, Kunschkel ersetzt das Fehlende durch unsinnige Wörter oder neue Combinationen von Sylben und hat die Genugthuung, den Satz geschlossen zu haben; auch er macht Versuche sich zu corrigiren, aber nur schwächliche. Bei beiden besteht dieselbe Art der Alexie, und ihre Agraphie ist weit bedeutender als ihre Aphasie und Alexie. Kunschkel ist mir ausserdem sehr verdäch- tig, auch eine rechtsseitige Hemiopie gehabt zu haben; letzteres würde die Analogie der beiden Fälle, welche in anatomischen Thatsachen ihren Grund haben muss, noch unzweifelhafter machen. Oben wurde ausgesprochen, dass Leitungsaphasie nicht Ur- sache der Alexie sein könne, (mit Ausnahme der Buchstaben), wenigstens nicht bei gebildeten Leuten. Beckmann scheint davon eine Ausnahme zu machen. Der Zustand Beckmann’s aber, und wahrscheinlich auch Kunschkel’s, ist durch rechtsseitige Hemiopie complicirt; ohne diese würde Beckmann ohne jede Beschwerde Alles lesen können. Beweis dafür ist der Umstand, dass er that- sächlich sehr Vieles zu lesen im Stande ist, aber nur im Vorbei- gehen, wenn er es nicht fixirt. Das fixirte Wort ist ja für ihn nur halb vorhanden, es kann daher keinen bestimmten Begriff in ihm wachrufen. Die Fähigkeit aber, das Wort aus seinen ein- zelnen Buchstaben zusammenzusetzen, geht ihm ab. Ein sehr frappantes Beispiel seiner virtuellen Fähigkeit zu lesen war mir, ausser dem schon oben erzählten von Goethe, die Art, wie er ein Recept überflog. Er hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als er sagte: Hier dieses Wort heisst Aloë; dicht darunter die Coloquinten konnte er trotz aller Mühe nicht enträthseln. Er hatte in dem Augenblicke vielleicht unwillkürlich rückwärts ge- lesen, oder mit peripherischen Theilen der Netzhaut, welche ihm noch einen Spielraum nach rechts hin gestatteten. Die schnell zunehmende Beschränkung des Gesichtsfeldes, während die Aphasie sich zu bessern schien, sprach zuerst dafür, dass ein progressiver Process nicht die Inselgegend selbst, sondern ein in der Nähe befindliches Gebilde, (wahrscheinlich den linken Tractus opticus *) befallen hat, welches die Function der linken *) Der Schluss auf den linken Tractus opticus ist dann nicht gestattet wenn eine vollkommene Kreuzung im Chiasma stattfindet. Es muss dann der hintere Winkel des Chiasma in Aussicht genommen werden.

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/57>, abgerufen am 24.11.2024.