gen meine Seele: die Welt sollte mir eine friedliche Wohnung glücklicher Kreaturen seyn, und die Erfahrung stellte sie mir als eine Höle auflauernder Räuber vor: in dem Menschen wollte ich einen guten freundli- chen Bruder finden, und ich fand einen eigennützigen habsüchtigen Wolf. --
"Lieber Fremdling! wenn du mit dem bloßen innern Geistesauge die Erde über- siehst, so findest du ein gewisses Leere, ein gewisses Geistliche darinne, daß dir ekelt, daß du sie ein fades Werk nennen mußt; gleichwohl ist es dein Beruf auf ihr zu leben. Um das zu können, finde ich nur zween Wege: entweder stürze dich in das Gewirre, das Getümmel der Freuden, der Geschäfte, des allgemeinen Streites des Eigennutzes, ficht, siege oder stirb! Laß dich in dem Wir- bel des Taumels herumdrehen, ohne zu den- ken, ohne anders als über die Oberfläche der Dinge zu reflektiren: zum ruhigen stillen Anschauen der Sachen, zum Eindringen in sie laß es nie kommen! Lebe, wie die mei- sten Einwohner der Welt leben, das heißt, komme nie zu dem Grade des Nachdenkens, wo du mehr als einen kleinen Zirkel der Welt
über-
gen meine Seele: die Welt ſollte mir eine friedliche Wohnung gluͤcklicher Kreaturen ſeyn, und die Erfahrung ſtellte ſie mir als eine Hoͤle auflauernder Raͤuber vor: in dem Menſchen wollte ich einen guten freundli- chen Bruder finden, und ich fand einen eigennuͤtzigen habſuͤchtigen Wolf. —
„Lieber Fremdling! wenn du mit dem bloßen innern Geiſtesauge die Erde uͤber- ſiehſt, ſo findeſt du ein gewiſſes Leere, ein gewiſſes Geiſtliche darinne, daß dir ekelt, daß du ſie ein fades Werk nennen mußt; gleichwohl iſt es dein Beruf auf ihr zu leben. Um das zu koͤnnen, finde ich nur zween Wege: entweder ſtuͤrze dich in das Gewirre, das Getuͤmmel der Freuden, der Geſchaͤfte, des allgemeinen Streites des Eigennutzes, ficht, ſiege oder ſtirb! Laß dich in dem Wir- bel des Taumels herumdrehen, ohne zu den- ken, ohne anders als uͤber die Oberflaͤche der Dinge zu reflektiren: zum ruhigen ſtillen Anſchauen der Sachen, zum Eindringen in ſie laß es nie kommen! Lebe, wie die mei- ſten Einwohner der Welt leben, das heißt, komme nie zu dem Grade des Nachdenkens, wo du mehr als einen kleinen Zirkel der Welt
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gen meine Seele: die Welt ſollte mir eine
friedliche Wohnung gluͤcklicher Kreaturen
ſeyn, und die Erfahrung ſtellte ſie mir als
eine Hoͤle auflauernder Raͤuber vor: in dem
Menſchen wollte ich einen guten freundli-
chen Bruder finden, und ich fand einen
eigennuͤtzigen habſuͤchtigen Wolf. —
„Lieber Fremdling! wenn du mit dem
bloßen innern Geiſtesauge die Erde uͤber-
ſiehſt, ſo findeſt du ein gewiſſes Leere, ein
gewiſſes Geiſtliche darinne, daß dir ekelt,
daß du ſie ein fades Werk nennen mußt;
gleichwohl iſt es dein Beruf auf ihr zu leben.
Um das zu koͤnnen, finde ich nur zween
Wege: entweder ſtuͤrze dich in das Gewirre,
das Getuͤmmel der Freuden, der Geſchaͤfte,
des allgemeinen Streites des Eigennutzes,
ficht, ſiege oder ſtirb! Laß dich in dem Wir-
bel des Taumels herumdrehen, ohne zu den-
ken, ohne anders als uͤber die Oberflaͤche
der Dinge zu reflektiren: zum ruhigen ſtillen
Anſchauen der Sachen, zum Eindringen in
ſie laß es nie kommen! Lebe, wie die mei-
ſten Einwohner der Welt leben, das heißt,
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Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor02_1776/108>, abgerufen am 22.12.2024.
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