etwas bewegliches wahrzunehmen, allein sein Auge reichte nicht völlig bis dahin, um es gehörig zu unterscheiden. Endlich, nach langem vergeblichen Warten, warf er sich verzweiflungsvoll nieder und rief:
O Natur! o Schicksal! daß ihr doch in ewiger Uneinigkeit wider einander seyn müßt! Sollte das Unglück die Bande der Mensch- heit näher zusammenziehn, sollte es ein Ge- schöpf dem andern theuer und nothwendig machen, warum mußte das Schicksal wohl tausend Unglücksfälle in unser Leben hin- werfen, aber unter diesen tausenden kaum einen die Wirkung thun lassen, wozu er nach unsrer Meynung bestimmt ist? -- Meine traurige Hülflosigkeit, die Nähe des Todes, die Möglichkeit der Rettung, die Zudring- lichkeit der Gefahr -- alles zusammen hat mein Herz wieder geöffnet: ich fühle einen Zug nach Menschen; ich würde sie vielleicht lieben, wenn sie mich retteten; ich hasse sie schon weniger: aber wenn ich meine Hände gleich zu Freundschaft und Wohlwollen aus- strecke, und Niemand mir die seinigen bie- tet? Wenn mich das Schicksal auf der einen Seite zu den Menschen hinstößt, und auf
der
etwas bewegliches wahrzunehmen, allein ſein Auge reichte nicht voͤllig bis dahin, um es gehoͤrig zu unterſcheiden. Endlich, nach langem vergeblichen Warten, warf er ſich verzweiflungsvoll nieder und rief:
O Natur! o Schickſal! daß ihr doch in ewiger Uneinigkeit wider einander ſeyn muͤßt! Sollte das Ungluͤck die Bande der Menſch- heit naͤher zuſammenziehn, ſollte es ein Ge- ſchoͤpf dem andern theuer und nothwendig machen, warum mußte das Schickſal wohl tauſend Ungluͤcksfaͤlle in unſer Leben hin- werfen, aber unter dieſen tauſenden kaum einen die Wirkung thun laſſen, wozu er nach unſrer Meynung beſtimmt iſt? — Meine traurige Huͤlfloſigkeit, die Naͤhe des Todes, die Moͤglichkeit der Rettung, die Zudring- lichkeit der Gefahr — alles zuſammen hat mein Herz wieder geoͤffnet: ich fuͤhle einen Zug nach Menſchen; ich wuͤrde ſie vielleicht lieben, wenn ſie mich retteten; ich haſſe ſie ſchon weniger: aber wenn ich meine Haͤnde gleich zu Freundſchaft und Wohlwollen aus- ſtrecke, und Niemand mir die ſeinigen bie- tet? Wenn mich das Schickſal auf der einen Seite zu den Menſchen hinſtoͤßt, und auf
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[200/0206]
etwas bewegliches wahrzunehmen, allein
ſein Auge reichte nicht voͤllig bis dahin, um
es gehoͤrig zu unterſcheiden. Endlich, nach
langem vergeblichen Warten, warf er ſich
verzweiflungsvoll nieder und rief:
O Natur! o Schickſal! daß ihr doch in
ewiger Uneinigkeit wider einander ſeyn muͤßt!
Sollte das Ungluͤck die Bande der Menſch-
heit naͤher zuſammenziehn, ſollte es ein Ge-
ſchoͤpf dem andern theuer und nothwendig
machen, warum mußte das Schickſal wohl
tauſend Ungluͤcksfaͤlle in unſer Leben hin-
werfen, aber unter dieſen tauſenden kaum
einen die Wirkung thun laſſen, wozu er nach
unſrer Meynung beſtimmt iſt? — Meine
traurige Huͤlfloſigkeit, die Naͤhe des Todes,
die Moͤglichkeit der Rettung, die Zudring-
lichkeit der Gefahr — alles zuſammen hat
mein Herz wieder geoͤffnet: ich fuͤhle einen
Zug nach Menſchen; ich wuͤrde ſie vielleicht
lieben, wenn ſie mich retteten; ich haſſe ſie
ſchon weniger: aber wenn ich meine Haͤnde
gleich zu Freundſchaft und Wohlwollen aus-
ſtrecke, und Niemand mir die ſeinigen bie-
tet? Wenn mich das Schickſal auf der einen
Seite zu den Menſchen hinſtoͤßt, und auf
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Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor02_1776/206>, abgerufen am 22.12.2024.
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