hatte. Ich lebte indessen nur zur Hälfte: ich bin von jeher ein Geschöpf gewesen, das mehr in der Imagination als in der Wirklichkeit lebte, glücklich und un- glücklich war. Meine verlaßne Liebe er- zeugte bald mit Hülfe meiner Einbildungs- kraft eine Melancholie in mir, die mich von aller Gesellschaft entfernte: ich lebte, dachte und fühlte in der tiefsinnigsten Einsamkeit, und ich dachte nichts, als meine S **, und fühlte nichts als meine Liebe. Geschäfte und andre Verbindungen zwangen mich häu- fig, meine Einsiedeley zu verlassen: ich that es mit Widerwillen, mit dem größten Wi- derwillen, weil keine andre S ** in der ganzen schimmernden Gesellschaft, in wel- cher ich, wie ein Gespenst, täglich herum- wanderte, anzutreffen war: keine, auch nicht die schönste, auch nicht die bewun- dertste bewegte den Perpendickel meines Her- zens nur um eine Sekunde schneller: alles waren mir steife unnatürliche Kreaturen, die den Mangel des natürlichen Reizes durch Kunst und Anstand ersetzen wollten, aber ihn für mein Gefühl unendlich wenig ersetz- ten, durch den falschen Anstrich nur desto
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hatte. Ich lebte indeſſen nur zur Haͤlfte: ich bin von jeher ein Geſchoͤpf geweſen, das mehr in der Imagination als in der Wirklichkeit lebte, gluͤcklich und un- gluͤcklich war. Meine verlaßne Liebe er- zeugte bald mit Huͤlfe meiner Einbildungs- kraft eine Melancholie in mir, die mich von aller Geſellſchaft entfernte: ich lebte, dachte und fuͤhlte in der tiefſinnigſten Einſamkeit, und ich dachte nichts, als meine S **, und fuͤhlte nichts als meine Liebe. Geſchaͤfte und andre Verbindungen zwangen mich haͤu- fig, meine Einſiedeley zu verlaſſen: ich that es mit Widerwillen, mit dem groͤßten Wi- derwillen, weil keine andre S ** in der ganzen ſchimmernden Geſellſchaft, in wel- cher ich, wie ein Geſpenſt, taͤglich herum- wanderte, anzutreffen war: keine, auch nicht die ſchoͤnſte, auch nicht die bewun- dertſte bewegte den Perpendickel meines Her- zens nur um eine Sekunde ſchneller: alles waren mir ſteife unnatuͤrliche Kreaturen, die den Mangel des natuͤrlichen Reizes durch Kunſt und Anſtand erſetzen wollten, aber ihn fuͤr mein Gefuͤhl unendlich wenig erſetz- ten, durch den falſchen Anſtrich nur deſto
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hatte. Ich lebte indeſſen nur zur Haͤlfte:
ich bin von jeher ein Geſchoͤpf geweſen, das
mehr in der Imagination als in der
Wirklichkeit lebte, gluͤcklich und un-
gluͤcklich war. Meine verlaßne Liebe er-
zeugte bald mit Huͤlfe meiner Einbildungs-
kraft eine Melancholie in mir, die mich von
aller Geſellſchaft entfernte: ich lebte, dachte
und fuͤhlte in der tiefſinnigſten Einſamkeit,
und ich dachte nichts, als meine S **, und
fuͤhlte nichts als meine Liebe. Geſchaͤfte
und andre Verbindungen zwangen mich haͤu-
fig, meine Einſiedeley zu verlaſſen: ich that
es mit Widerwillen, mit dem groͤßten Wi-
derwillen, weil keine andre S ** in der
ganzen ſchimmernden Geſellſchaft, in wel-
cher ich, wie ein Geſpenſt, taͤglich herum-
wanderte, anzutreffen war: keine, auch
nicht die ſchoͤnſte, auch nicht die bewun-
dertſte bewegte den Perpendickel meines Her-
zens nur um eine Sekunde ſchneller: alles
waren mir ſteife unnatuͤrliche Kreaturen, die
den Mangel des natuͤrlichen Reizes durch
Kunſt und Anſtand erſetzen wollten, aber
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ten, durch den falſchen Anſtrich nur deſto
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Wezel, Johann Carl: Belphegor, oder die wahrscheinlichste Geschichte unter der Sonne. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wezel_belphegor02_1776/83>, abgerufen am 22.12.2024.
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