wo alles Freude athmete, sehr lange Weile hatte. Zwar lag die Schuld nur an ihm selbst, wenn es ihm an ei- nem Zeit-Vertreib mangelte, der sonst die hauptsäch- lichste Beschäftigung der Leute von seinem Alter auszu- machen pflegt. Die Nymfen dieses Hauses waren von einer so gefälligen Gemüths-Art, von einer so anzie- henden Figur, und von einem so günstigen Vorurtheil für den neuen Haus-Genossen eingenommen, daß es weder die Furcht abgewiesen zu werden, noch der Feh- ler ihrer Reizungen war, was den schönen Callias so zurükhaltend oder unempfindlich machte.
Verschiedene, die aus seinem Betragen schlossen, daß er noch ein Neuling seyn müsse, liessen sich die Mühe nicht dauern, ihm die Schwierigkeiten, die ihm seine Schüchternheit, ihren Gedanken nach, in den Weg legte, zu erleichtern; und gaben ihm Gelegenheiten, die den Zaghaftesten hätten unternehmend machen sollen. Allein (wir müssen es nur gestehen, was man auch von unserm Helden deswegen denken mag) er gab sich eben so viel Mühe, diese Gelegenheiten auszuweichen, als man sich geben konnte, sie ihm zu machen. Wenn dieses anzuzeigen scheint, daß er entweder einiges Miß- trauen in sich selbst, oder ein allzugrosses Vertrauen in die Reizungen dieser schönen Verführerinnen gesezt ha- be, so dienet vielleicht zu seiner Entschuldigung, daß er noch nicht alt genug war, ein Xenocrates zu seyn; und daß er, vermuthlich nicht ohne Ursache, ein Vorurtheil
wider
Agathon.
wo alles Freude athmete, ſehr lange Weile hatte. Zwar lag die Schuld nur an ihm ſelbſt, wenn es ihm an ei- nem Zeit-Vertreib mangelte, der ſonſt die hauptſaͤch- lichſte Beſchaͤftigung der Leute von ſeinem Alter auszu- machen pflegt. Die Nymfen dieſes Hauſes waren von einer ſo gefaͤlligen Gemuͤths-Art, von einer ſo anzie- henden Figur, und von einem ſo guͤnſtigen Vorurtheil fuͤr den neuen Haus-Genoſſen eingenommen, daß es weder die Furcht abgewieſen zu werden, noch der Feh- ler ihrer Reizungen war, was den ſchoͤnen Callias ſo zuruͤkhaltend oder unempfindlich machte.
Verſchiedene, die aus ſeinem Betragen ſchloſſen, daß er noch ein Neuling ſeyn muͤſſe, lieſſen ſich die Muͤhe nicht dauern, ihm die Schwierigkeiten, die ihm ſeine Schuͤchternheit, ihren Gedanken nach, in den Weg legte, zu erleichtern; und gaben ihm Gelegenheiten, die den Zaghafteſten haͤtten unternehmend machen ſollen. Allein (wir muͤſſen es nur geſtehen, was man auch von unſerm Helden deswegen denken mag) er gab ſich eben ſo viel Muͤhe, dieſe Gelegenheiten auszuweichen, als man ſich geben konnte, ſie ihm zu machen. Wenn dieſes anzuzeigen ſcheint, daß er entweder einiges Miß- trauen in ſich ſelbſt, oder ein allzugroſſes Vertrauen in die Reizungen dieſer ſchoͤnen Verfuͤhrerinnen geſezt ha- be, ſo dienet vielleicht zu ſeiner Entſchuldigung, daß er noch nicht alt genug war, ein Xenocrates zu ſeyn; und daß er, vermuthlich nicht ohne Urſache, ein Vorurtheil
wider
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Agathon.
wo alles Freude athmete, ſehr lange Weile hatte. Zwar
lag die Schuld nur an ihm ſelbſt, wenn es ihm an ei-
nem Zeit-Vertreib mangelte, der ſonſt die hauptſaͤch-
lichſte Beſchaͤftigung der Leute von ſeinem Alter auszu-
machen pflegt. Die Nymfen dieſes Hauſes waren von
einer ſo gefaͤlligen Gemuͤths-Art, von einer ſo anzie-
henden Figur, und von einem ſo guͤnſtigen Vorurtheil
fuͤr den neuen Haus-Genoſſen eingenommen, daß es
weder die Furcht abgewieſen zu werden, noch der Feh-
ler ihrer Reizungen war, was den ſchoͤnen Callias ſo
zuruͤkhaltend oder unempfindlich machte.
Verſchiedene, die aus ſeinem Betragen ſchloſſen, daß
er noch ein Neuling ſeyn muͤſſe, lieſſen ſich die Muͤhe
nicht dauern, ihm die Schwierigkeiten, die ihm ſeine
Schuͤchternheit, ihren Gedanken nach, in den Weg
legte, zu erleichtern; und gaben ihm Gelegenheiten, die
den Zaghafteſten haͤtten unternehmend machen ſollen.
Allein (wir muͤſſen es nur geſtehen, was man auch von
unſerm Helden deswegen denken mag) er gab ſich eben
ſo viel Muͤhe, dieſe Gelegenheiten auszuweichen, als
man ſich geben konnte, ſie ihm zu machen. Wenn
dieſes anzuzeigen ſcheint, daß er entweder einiges Miß-
trauen in ſich ſelbſt, oder ein allzugroſſes Vertrauen in
die Reizungen dieſer ſchoͤnen Verfuͤhrerinnen geſezt ha-
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noch nicht alt genug war, ein Xenocrates zu ſeyn; und
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/72>, abgerufen am 16.02.2025.
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