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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, drittes Capitel.

So sprach Aristipp; und Agathon würde wol gethan
haben, einem so guten Rathe zu folgen. Aber wie
sollte es möglich seyn, daß derjenige, welcher selbst eine
Haupt-Rolle in einem Stüke spielt, so gelassen davon
urtheilen sollte, als ein blosser Zuschauer? Agathon sah
die Sachen aus einem ganz andern Gesichts-Punct. Er
betrachtete sich als einen Mann, der die Verbindlichkeit
auf sich genommen habe, die Wolfahrt Siciliens zu
befördern. " Warum kam ich nach Syracus? -- sagte
er zu sich selbst -- und mit welchen Absichten übernahm
ich das Amt eines Freundes und Rathgebers bey diesem
Tyrannen? That ich es, um ein Sclave seiner Leiden-
schaften, oder ein Werkzeug der Tyrannie zu seyn?
Oder hatte ich einen grossen und rechtschaffenen Zwek?
Würde ich mich jemals mit ihm eingelassen haben, wenn
er mir nicht Hofnung gemacht hätte, daß die Tugend
endlich die Oberhand über seine Laster erhalten würde?
Er hat mich betrogen, und die Erfahrungen, die ich
von seiner Gemüths-Art habe, überzeugen mich, daß
er unverbesserlich ist. Aber würde es edel von mir ge-
handelt seyn, ein Volk, dessen Wolfahrt der Endzwek
meiner Bemühungen war, ein Volk, welches mich als
seinen Wolthäter ansieht, den Launen dieses weibischen
Menschen, und der Raubsucht seiner Schmeichler und
Sclaven Preis zu geben? Was für Pflichten hab' ich
gegen ihn, welche sein undankbares, niederträchtiges
Verfahren gegen mich nicht aufgehoben, und vernichtet
hätte? Oder wenn ich noch Pflichten gegen ihn habe;
sind nicht diejenigen unendlichmal heiliger, welche mich

an
Q 5
Zehentes Buch, drittes Capitel.

So ſprach Ariſtipp; und Agathon wuͤrde wol gethan
haben, einem ſo guten Rathe zu folgen. Aber wie
ſollte es moͤglich ſeyn, daß derjenige, welcher ſelbſt eine
Haupt-Rolle in einem Stuͤke ſpielt, ſo gelaſſen davon
urtheilen ſollte, als ein bloſſer Zuſchauer? Agathon ſah
die Sachen aus einem ganz andern Geſichts-Punct. Er
betrachtete ſich als einen Mann, der die Verbindlichkeit
auf ſich genommen habe, die Wolfahrt Siciliens zu
befoͤrdern. „ Warum kam ich nach Syracus? ‒‒ ſagte
er zu ſich ſelbſt ‒‒ und mit welchen Abſichten uͤbernahm
ich das Amt eines Freundes und Rathgebers bey dieſem
Tyrannen? That ich es, um ein Sclave ſeiner Leiden-
ſchaften, oder ein Werkzeug der Tyrannie zu ſeyn?
Oder hatte ich einen groſſen und rechtſchaffenen Zwek?
Wuͤrde ich mich jemals mit ihm eingelaſſen haben, wenn
er mir nicht Hofnung gemacht haͤtte, daß die Tugend
endlich die Oberhand uͤber ſeine Laſter erhalten wuͤrde?
Er hat mich betrogen, und die Erfahrungen, die ich
von ſeiner Gemuͤths-Art habe, uͤberzeugen mich, daß
er unverbeſſerlich iſt. Aber wuͤrde es edel von mir ge-
handelt ſeyn, ein Volk, deſſen Wolfahrt der Endzwek
meiner Bemuͤhungen war, ein Volk, welches mich als
ſeinen Wolthaͤter anſieht, den Launen dieſes weibiſchen
Menſchen, und der Raubſucht ſeiner Schmeichler und
Sclaven Preis zu geben? Was fuͤr Pflichten hab’ ich
gegen ihn, welche ſein undankbares, niedertraͤchtiges
Verfahren gegen mich nicht aufgehoben, und vernichtet
haͤtte? Oder wenn ich noch Pflichten gegen ihn habe;
ſind nicht diejenigen unendlichmal heiliger, welche mich

an
Q 5
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[249/0251] Zehentes Buch, drittes Capitel. So ſprach Ariſtipp; und Agathon wuͤrde wol gethan haben, einem ſo guten Rathe zu folgen. Aber wie ſollte es moͤglich ſeyn, daß derjenige, welcher ſelbſt eine Haupt-Rolle in einem Stuͤke ſpielt, ſo gelaſſen davon urtheilen ſollte, als ein bloſſer Zuſchauer? Agathon ſah die Sachen aus einem ganz andern Geſichts-Punct. Er betrachtete ſich als einen Mann, der die Verbindlichkeit auf ſich genommen habe, die Wolfahrt Siciliens zu befoͤrdern. „ Warum kam ich nach Syracus? ‒‒ ſagte er zu ſich ſelbſt ‒‒ und mit welchen Abſichten uͤbernahm ich das Amt eines Freundes und Rathgebers bey dieſem Tyrannen? That ich es, um ein Sclave ſeiner Leiden- ſchaften, oder ein Werkzeug der Tyrannie zu ſeyn? Oder hatte ich einen groſſen und rechtſchaffenen Zwek? Wuͤrde ich mich jemals mit ihm eingelaſſen haben, wenn er mir nicht Hofnung gemacht haͤtte, daß die Tugend endlich die Oberhand uͤber ſeine Laſter erhalten wuͤrde? Er hat mich betrogen, und die Erfahrungen, die ich von ſeiner Gemuͤths-Art habe, uͤberzeugen mich, daß er unverbeſſerlich iſt. Aber wuͤrde es edel von mir ge- handelt ſeyn, ein Volk, deſſen Wolfahrt der Endzwek meiner Bemuͤhungen war, ein Volk, welches mich als ſeinen Wolthaͤter anſieht, den Launen dieſes weibiſchen Menſchen, und der Raubſucht ſeiner Schmeichler und Sclaven Preis zu geben? Was fuͤr Pflichten hab’ ich gegen ihn, welche ſein undankbares, niedertraͤchtiges Verfahren gegen mich nicht aufgehoben, und vernichtet haͤtte? Oder wenn ich noch Pflichten gegen ihn habe; ſind nicht diejenigen unendlichmal heiliger, welche mich an Q 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/251>, abgerufen am 24.11.2024.