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Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780.

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9.
Mitleidig reicht er ihr die abgezehrte hand,
Der lezte, treuste Freund der leidenden! Sie steiget
Hinab mit ihm ins stille Schattenland,
Wo aller schmerz, wo aller jammer schweiget;
Wo keine kette mehr die freye Seele reibt,
Die scenen Dieser welt wie kinderträume schwinden,
Und nichts aus ihr als unser herz uns bleibt:
Da wird sie alles, was sie liebte, wiederfinden!
10.
Wie ein verblutend Lamm, stillduldend, liegt sie da,
Und seufzt dem lezten augenblik entgegen:
Als, in der stille der nacht, sich ihr Titania
Trostbringend naht. Ein unsichtbarer Regen
Von schlummerdüften stärkt der schönen Dulderin
Mattschlagend herz, und schläft den äußern sinn
Unmerklich ein. Da zeigt sich ihr im traumgesichte
Die Elfenkönigin in ihrem rosenlichte.
11.
Auf! spricht sie, fasse mut! Dein Sohn und dein Gemahl
Sie athmen noch, sind nicht für dich verloren.
Erkenne mich! Wenn du zum drittenmal
Mich wiedersiehst, dann ist, was Oberon geschworen,
Erfüllt durch eure Treu. Ihr endet unsre pein,
Und wie Wir glüklich sind, so werdet Ihr es seyn.
Mit diesem wort entschwebt die Göttin ihrem blicke,
Doch bleibt noch, wo sie stand, ihr rosenduft zurücke.
12. A-
Q 2
9.
Mitleidig reicht er ihr die abgezehrte hand,
Der lezte, treuſte Freund der leidenden! Sie ſteiget
Hinab mit ihm ins ſtille Schattenland,
Wo aller ſchmerz, wo aller jammer ſchweiget;
Wo keine kette mehr die freye Seele reibt,
Die ſcenen Dieſer welt wie kindertraͤume ſchwinden,
Und nichts aus ihr als unſer herz uns bleibt:
Da wird ſie alles, was ſie liebte, wiederfinden!
10.
Wie ein verblutend Lamm, ſtillduldend, liegt ſie da,
Und ſeufzt dem lezten augenblik entgegen:
Als, in der ſtille der nacht, ſich ihr Titania
Troſtbringend naht. Ein unſichtbarer Regen
Von ſchlummerduͤften ſtaͤrkt der ſchoͤnen Dulderin
Mattſchlagend herz, und ſchlaͤft den aͤußern ſinn
Unmerklich ein. Da zeigt ſich ihr im traumgeſichte
Die Elfenkoͤnigin in ihrem roſenlichte.
11.
Auf! ſpricht ſie, faſſe mut! Dein Sohn und dein Gemahl
Sie athmen noch, ſind nicht fuͤr dich verloren.
Erkenne mich! Wenn du zum drittenmal
Mich wiederſiehſt, dann iſt, was Oberon geſchworen,
Erfuͤllt durch eure Treu. Ihr endet unſre pein,
Und wie Wir gluͤklich ſind, ſo werdet Ihr es ſeyn.
Mit dieſem wort entſchwebt die Goͤttin ihrem blicke,
Doch bleibt noch, wo ſie ſtand, ihr roſenduft zuruͤcke.
12. A-
Q 2
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[0249] 9. Mitleidig reicht er ihr die abgezehrte hand, Der lezte, treuſte Freund der leidenden! Sie ſteiget Hinab mit ihm ins ſtille Schattenland, Wo aller ſchmerz, wo aller jammer ſchweiget; Wo keine kette mehr die freye Seele reibt, Die ſcenen Dieſer welt wie kindertraͤume ſchwinden, Und nichts aus ihr als unſer herz uns bleibt: Da wird ſie alles, was ſie liebte, wiederfinden! 10. Wie ein verblutend Lamm, ſtillduldend, liegt ſie da, Und ſeufzt dem lezten augenblik entgegen: Als, in der ſtille der nacht, ſich ihr Titania Troſtbringend naht. Ein unſichtbarer Regen Von ſchlummerduͤften ſtaͤrkt der ſchoͤnen Dulderin Mattſchlagend herz, und ſchlaͤft den aͤußern ſinn Unmerklich ein. Da zeigt ſich ihr im traumgeſichte Die Elfenkoͤnigin in ihrem roſenlichte. 11. Auf! ſpricht ſie, faſſe mut! Dein Sohn und dein Gemahl Sie athmen noch, ſind nicht fuͤr dich verloren. Erkenne mich! Wenn du zum drittenmal Mich wiederſiehſt, dann iſt, was Oberon geſchworen, Erfuͤllt durch eure Treu. Ihr endet unſre pein, Und wie Wir gluͤklich ſind, ſo werdet Ihr es ſeyn. Mit dieſem wort entſchwebt die Goͤttin ihrem blicke, Doch bleibt noch, wo ſie ſtand, ihr roſenduft zuruͤcke. 12. A- Q 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Weimar, 1780, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_oberon_1780/249>, abgerufen am 16.05.2024.