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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Wohnung zugeeilt. Alles, was ihn noch vor kaum einer Stunde belastet und beengt, hatte ein einziger Augenblick hin weggeweht. Leonie hatte ihn gesprochen, Leonie hatte ihn angesehen, so freundlich, ja, noch freundlicher fast, als in früherer Zeit, wo noch keine Schuld aus seinem Gewissen lag. Und doch mußte sie erfahren haben, was vorgefallen war; sie mußte wissen, -- und hier drängte sich Mariens blasses Bild seiner Seele unwiderstehlich auf -- ja, sie mußte wissen, daß er ein edles, treues Herz auf die grausamste Weise gekränkt, und sie hatte ihn dennoch so angesprochen, so angelächelt, so zu ihm aufgeblickt! Theilte sie denn nicht das allgemeine Vorurtheil gegen ihn? -- Oder -- und hier schlug sein Herz in lauten, vollen, angsterfüllten Schlägen -- oder wußte sie vielleicht, warum, und sprach ihr Herz frei von Schuld? Das Blut brauste in Adern, mit eiligen Schritten durchmaß er sein Zimmer; aber er erstickte in dem engen Raume; er mußte hinaus in Gottes freie Welt. Hastig ergriff er seinen Hut und stürmte fort. Unter dem Thore der Stadt streifte er an dem Baron vorbei, der stehen blieb und ihm lange nachsah. Louis hatte ihn nicht bemerkt. Für ihn gab es in diesem Augenblick nur noch Einen Gegenstand in der Welt.

Leonie, ein winziges Häubchen auf die schimmernden, überquellenden Locken gedrückt, in eine Wolke von blauer Seide und Spitzen gehüllt, aus welcher die weißen Arme und der feine Kopf mit dem träumerisch schmachtenden Ausdruck wie weiße Blüten hervor sahen, stand eben vor ihren Blumen, die sie nicht ohne Grazie hier von einem welken Blatt, dort von einer geknickten Knospe säuberte, und streute dazwischen liebliche, seltene Worte in ein Gespräch, das ihr Manu im Hintergrunde des Zimmers mit einem seiner Freunde führte. Sie hob sich so hoch sie konnte auf den zierlichen Füßchen und streckte mit nachlässiger Anstrengung die feinen Arme zu einer Seerose empor, die das

Wohnung zugeeilt. Alles, was ihn noch vor kaum einer Stunde belastet und beengt, hatte ein einziger Augenblick hin weggeweht. Leonie hatte ihn gesprochen, Leonie hatte ihn angesehen, so freundlich, ja, noch freundlicher fast, als in früherer Zeit, wo noch keine Schuld aus seinem Gewissen lag. Und doch mußte sie erfahren haben, was vorgefallen war; sie mußte wissen, — und hier drängte sich Mariens blasses Bild seiner Seele unwiderstehlich auf — ja, sie mußte wissen, daß er ein edles, treues Herz auf die grausamste Weise gekränkt, und sie hatte ihn dennoch so angesprochen, so angelächelt, so zu ihm aufgeblickt! Theilte sie denn nicht das allgemeine Vorurtheil gegen ihn? — Oder — und hier schlug sein Herz in lauten, vollen, angsterfüllten Schlägen — oder wußte sie vielleicht, warum, und sprach ihr Herz frei von Schuld? Das Blut brauste in Adern, mit eiligen Schritten durchmaß er sein Zimmer; aber er erstickte in dem engen Raume; er mußte hinaus in Gottes freie Welt. Hastig ergriff er seinen Hut und stürmte fort. Unter dem Thore der Stadt streifte er an dem Baron vorbei, der stehen blieb und ihm lange nachsah. Louis hatte ihn nicht bemerkt. Für ihn gab es in diesem Augenblick nur noch Einen Gegenstand in der Welt.

Leonie, ein winziges Häubchen auf die schimmernden, überquellenden Locken gedrückt, in eine Wolke von blauer Seide und Spitzen gehüllt, aus welcher die weißen Arme und der feine Kopf mit dem träumerisch schmachtenden Ausdruck wie weiße Blüten hervor sahen, stand eben vor ihren Blumen, die sie nicht ohne Grazie hier von einem welken Blatt, dort von einer geknickten Knospe säuberte, und streute dazwischen liebliche, seltene Worte in ein Gespräch, das ihr Manu im Hintergrunde des Zimmers mit einem seiner Freunde führte. Sie hob sich so hoch sie konnte auf den zierlichen Füßchen und streckte mit nachlässiger Anstrengung die feinen Arme zu einer Seerose empor, die das

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[0106] Wohnung zugeeilt. Alles, was ihn noch vor kaum einer Stunde belastet und beengt, hatte ein einziger Augenblick hin weggeweht. Leonie hatte ihn gesprochen, Leonie hatte ihn angesehen, so freundlich, ja, noch freundlicher fast, als in früherer Zeit, wo noch keine Schuld aus seinem Gewissen lag. Und doch mußte sie erfahren haben, was vorgefallen war; sie mußte wissen, — und hier drängte sich Mariens blasses Bild seiner Seele unwiderstehlich auf — ja, sie mußte wissen, daß er ein edles, treues Herz auf die grausamste Weise gekränkt, und sie hatte ihn dennoch so angesprochen, so angelächelt, so zu ihm aufgeblickt! Theilte sie denn nicht das allgemeine Vorurtheil gegen ihn? — Oder — und hier schlug sein Herz in lauten, vollen, angsterfüllten Schlägen — oder wußte sie vielleicht, warum, und sprach ihr Herz frei von Schuld? Das Blut brauste in Adern, mit eiligen Schritten durchmaß er sein Zimmer; aber er erstickte in dem engen Raume; er mußte hinaus in Gottes freie Welt. Hastig ergriff er seinen Hut und stürmte fort. Unter dem Thore der Stadt streifte er an dem Baron vorbei, der stehen blieb und ihm lange nachsah. Louis hatte ihn nicht bemerkt. Für ihn gab es in diesem Augenblick nur noch Einen Gegenstand in der Welt. Leonie, ein winziges Häubchen auf die schimmernden, überquellenden Locken gedrückt, in eine Wolke von blauer Seide und Spitzen gehüllt, aus welcher die weißen Arme und der feine Kopf mit dem träumerisch schmachtenden Ausdruck wie weiße Blüten hervor sahen, stand eben vor ihren Blumen, die sie nicht ohne Grazie hier von einem welken Blatt, dort von einer geknickten Knospe säuberte, und streute dazwischen liebliche, seltene Worte in ein Gespräch, das ihr Manu im Hintergrunde des Zimmers mit einem seiner Freunde führte. Sie hob sich so hoch sie konnte auf den zierlichen Füßchen und streckte mit nachlässiger Anstrengung die feinen Arme zu einer Seerose empor, die das

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/106>, abgerufen am 26.11.2024.