Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.Von der Kunst unter den Griechen. können. Die Redekunst fieng an aus eben dem Grunde allererst in demGenusse der völligen Freyheit unter den Griechen zu blühen; daher legten die Sicilianer 1) dem Gorgias die Erfindung der Redekunst bey. Die Griechen waren in ihrer besten Zeit denkende Wesen, welche zwanzig und mehr Jahre schon gedacht hatten, ehe wir insgemein aus uns selbst zu denken anfangen, und die den Geist in seinem größten Feuer, von der Munterkeit des Körpers unterstützet, beschäftigten, welcher bey uns, bis er abnimmt, unedel genähret wird. Der unmündige Verstand, welcher, wie eine zarte Rinde, den Einschnitt behält und erweitert, wurde nicht mit bloßen Tönen ohne Begriffe unterhalten, und das Gehirn, gleich einer Wachstafel, die nur eine gewisse Anzahl Worte oder Bilder fassen kann, war nicht mit Träumen erfüllet, wenn die Wahrheit Platz nehmen will. Gelehrt seyn, das ist, zu wissen, was andere gewußt haben, wurde spät gesucht: gelehrt, im heutigen Verstande, zu seyn, war in ih- rer besten Zeit leicht, und weise konnte ein jeder werden. Denn es war eine Eitelkeit weniger in der Welt, nemlich viel Bücher zu kennen, da allererst nach der ein und sechzigsten Olympias die zerstreueten Glieder des größten Dichters gesammlet wurden. Diesen lernete das Kind 2); der Jüngling dachte wie der Dichter, und wenn er etwas würdiges hervorge- bracht hatte, so war er unter die ersten seines Volks gerechnet. Ein weiser Mann war der geehrteste, und dieser war in jeder Stadt,III. dieser 1) conf. Hardion Diss. sur l'orig. de la Rhet. p. 160. 2) Xenoph. Conviv. c. 3. §. 5. 3) Liv. L. 29. c. 14. 4) Plat. Apolog. p. 9. ed. Bas. R 3
Von der Kunſt unter den Griechen. koͤnnen. Die Redekunſt fieng an aus eben dem Grunde allererſt in demGenuſſe der voͤlligen Freyheit unter den Griechen zu bluͤhen; daher legten die Sicilianer 1) dem Gorgias die Erfindung der Redekunſt bey. Die Griechen waren in ihrer beſten Zeit denkende Weſen, welche zwanzig und mehr Jahre ſchon gedacht hatten, ehe wir insgemein aus uns ſelbſt zu denken anfangen, und die den Geiſt in ſeinem groͤßten Feuer, von der Munterkeit des Koͤrpers unterſtuͤtzet, beſchaͤftigten, welcher bey uns, bis er abnimmt, unedel genaͤhret wird. Der unmuͤndige Verſtand, welcher, wie eine zarte Rinde, den Einſchnitt behaͤlt und erweitert, wurde nicht mit bloßen Toͤnen ohne Begriffe unterhalten, und das Gehirn, gleich einer Wachstafel, die nur eine gewiſſe Anzahl Worte oder Bilder faſſen kann, war nicht mit Traͤumen erfuͤllet, wenn die Wahrheit Platz nehmen will. Gelehrt ſeyn, das iſt, zu wiſſen, was andere gewußt haben, wurde ſpaͤt geſucht: gelehrt, im heutigen Verſtande, zu ſeyn, war in ih- rer beſten Zeit leicht, und weiſe konnte ein jeder werden. Denn es war eine Eitelkeit weniger in der Welt, nemlich viel Buͤcher zu kennen, da allererſt nach der ein und ſechzigſten Olympias die zerſtreueten Glieder des groͤßten Dichters geſammlet wurden. Dieſen lernete das Kind 2); der Juͤngling dachte wie der Dichter, und wenn er etwas wuͤrdiges hervorge- bracht hatte, ſo war er unter die erſten ſeines Volks gerechnet. Ein weiſer Mann war der geehrteſte, und dieſer war in jeder Stadt,III. dieſer 1) conf. Hardion Diſſ. ſur l’orig. de la Rhet. p. 160. 2) Xenoph. Conviv. c. 3. §. 5. 3) Liv. L. 29. c. 14. 4) Plat. Apolog. p. 9. ed. Baſ. R 3
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Von der Kunſt unter den Griechen.
koͤnnen. Die Redekunſt fieng an aus eben dem Grunde allererſt in dem
Genuſſe der voͤlligen Freyheit unter den Griechen zu bluͤhen; daher legten
die Sicilianer 1) dem Gorgias die Erfindung der Redekunſt bey. Die
Griechen waren in ihrer beſten Zeit denkende Weſen, welche zwanzig und
mehr Jahre ſchon gedacht hatten, ehe wir insgemein aus uns ſelbſt zu
denken anfangen, und die den Geiſt in ſeinem groͤßten Feuer, von
der Munterkeit des Koͤrpers unterſtuͤtzet, beſchaͤftigten, welcher bey
uns, bis er abnimmt, unedel genaͤhret wird. Der unmuͤndige Verſtand,
welcher, wie eine zarte Rinde, den Einſchnitt behaͤlt und erweitert, wurde
nicht mit bloßen Toͤnen ohne Begriffe unterhalten, und das Gehirn, gleich
einer Wachstafel, die nur eine gewiſſe Anzahl Worte oder Bilder faſſen
kann, war nicht mit Traͤumen erfuͤllet, wenn die Wahrheit Platz nehmen
will. Gelehrt ſeyn, das iſt, zu wiſſen, was andere gewußt haben,
wurde ſpaͤt geſucht: gelehrt, im heutigen Verſtande, zu ſeyn, war in ih-
rer beſten Zeit leicht, und weiſe konnte ein jeder werden. Denn es war
eine Eitelkeit weniger in der Welt, nemlich viel Buͤcher zu kennen, da
allererſt nach der ein und ſechzigſten Olympias die zerſtreueten Glieder des
groͤßten Dichters geſammlet wurden. Dieſen lernete das Kind 2); der
Juͤngling dachte wie der Dichter, und wenn er etwas wuͤrdiges hervorge-
bracht hatte, ſo war er unter die erſten ſeines Volks gerechnet.
Ein weiſer Mann war der geehrteſte, und dieſer war in jeder Stadt,
wie bey uns der reichſte, bekannt; ſo wie es der junge Scipio 3) war,
welcher die Cybele nach Rom fuͤhrete. Zu dieſer Achtung konnte der
Kuͤnſtler auch gelangen; ja Socrates erklaͤrete die Kuͤnſtler 4) allein fuͤr
weiſe, als diejenigen, welche es ſind, und nicht ſcheinen; und vielleicht in
dieſer
III.
Von der
Achtung der
Kuͤnſtler.
1) conf. Hardion Diſſ. ſur l’orig. de la Rhet. p. 160.
2) Xenoph. Conviv. c. 3. §. 5.
3) Liv. L. 29. c. 14.
4) Plat. Apolog. p. 9. ed. Baſ.
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