Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

I Theil. Viertes Capitel.
Idealisches, als jene, weil sie keine Nachahmung von etwas wirklichem hat
seyn können, und, nach der Nothwendigkeit, auf allgemeine Regeln und
Gesetze der Verhältnisse gegründet worden. Jene beyden Künste, welche
mit der bloßen Nachahmung ihren Anfang genommen haben, fanden alle
nöthige Regeln am Menschen bestimmt, da die Baukunst die ihrige durch
viele Schlüsse finden, und durch den Beyfall festsetzen mußte. Die Bild-
hauerey aber ist vor der Malerey voraus gegangen, und hat, als die ältere
Schwester, diese, als die jüngere, geführet; ja Plinius ist der Meynung,
daß zur Zeit des Trojanischen Krieges die Malerey noch nicht gewesen sey.
Der Jupiter des Phidias, und die Juno des Polycletus, die vollkom-
mensten Statuen, welche das Alterthum gekannt hat, waren schon, ehe
Licht und Schatten in Griechischen Gemälden erschien. Denn Apollo-
dorus 1), und sonderlich nach ihm Zeuxis, der Meister und der Schüler,
welche in der Neunzigsten Olympias berühmt waren, sind die ersten 2),
welche hierinn sich zeigeten; da man sich die Gemälde vor ihrer Zeit als
neben einander gesetzte Statuen vorzustellen hat, die außer der Handlung,
in welcher sie gegen einander standen, als einzelne Figuren kein ganzes zu
machen schienen, nach eben der Art, wie die Gemälde auf den sogenannten
Hetrurischen Gefäßen sind. Euphranor, welcher mit dem Praxiteles zu
gleicher Zeit, und also später noch, als Zeuxis, lebete, hat, wie Plinius
sagt, die Symmetrie in die Malerey gebracht.

Der
1) Er wurde der Schatten-Maler genannt. (skiagraphos. Hesych. skia) Man sieht also
die Ursache solcher Benennung, und Hesychius, welcher spiographos für skenographos,
d. i. der Zelt-Maler, genommen, ist zu verbessern.
2) Quintil. Inst. Orat. L. 12. c. 10.

I Theil. Viertes Capitel.
Idealiſches, als jene, weil ſie keine Nachahmung von etwas wirklichem hat
ſeyn koͤnnen, und, nach der Nothwendigkeit, auf allgemeine Regeln und
Geſetze der Verhaͤltniſſe gegruͤndet worden. Jene beyden Kuͤnſte, welche
mit der bloßen Nachahmung ihren Anfang genommen haben, fanden alle
noͤthige Regeln am Menſchen beſtimmt, da die Baukunſt die ihrige durch
viele Schluͤſſe finden, und durch den Beyfall feſtſetzen mußte. Die Bild-
hauerey aber iſt vor der Malerey voraus gegangen, und hat, als die aͤltere
Schweſter, dieſe, als die juͤngere, gefuͤhret; ja Plinius iſt der Meynung,
daß zur Zeit des Trojaniſchen Krieges die Malerey noch nicht geweſen ſey.
Der Jupiter des Phidias, und die Juno des Polycletus, die vollkom-
menſten Statuen, welche das Alterthum gekannt hat, waren ſchon, ehe
Licht und Schatten in Griechiſchen Gemaͤlden erſchien. Denn Apollo-
dorus 1), und ſonderlich nach ihm Zeuxis, der Meiſter und der Schuͤler,
welche in der Neunzigſten Olympias beruͤhmt waren, ſind die erſten 2),
welche hierinn ſich zeigeten; da man ſich die Gemaͤlde vor ihrer Zeit als
neben einander geſetzte Statuen vorzuſtellen hat, die außer der Handlung,
in welcher ſie gegen einander ſtanden, als einzelne Figuren kein ganzes zu
machen ſchienen, nach eben der Art, wie die Gemaͤlde auf den ſogenannten
Hetruriſchen Gefaͤßen ſind. Euphranor, welcher mit dem Praxiteles zu
gleicher Zeit, und alſo ſpaͤter noch, als Zeuxis, lebete, hat, wie Plinius
ſagt, die Symmetrie in die Malerey gebracht.

Der
1) Er wurde der Schatten-Maler genannt. (σκιαγράφος. Heſych. σκιά) Man ſieht alſo
die Urſache ſolcher Benennung, und Heſychius, welcher σπιόγραφος fuͤr σκηνόγραφος,
d. i. der Zelt-Maler, genommen, iſt zu verbeſſern.
2) Quintil. Inſt. Orat. L. 12. c. 10.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0188" n="138"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I</hi> Theil. Viertes Capitel.</hi></fw><lb/>
Ideali&#x017F;ches, als jene, weil &#x017F;ie keine Nachahmung von etwas wirklichem hat<lb/>
&#x017F;eyn ko&#x0364;nnen, und, nach der Nothwendigkeit, auf allgemeine Regeln und<lb/>
Ge&#x017F;etze der Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e gegru&#x0364;ndet worden. Jene beyden Ku&#x0364;n&#x017F;te, welche<lb/>
mit der bloßen Nachahmung ihren Anfang genommen haben, fanden alle<lb/>
no&#x0364;thige Regeln am Men&#x017F;chen be&#x017F;timmt, da die Baukun&#x017F;t die ihrige durch<lb/>
viele Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e finden, und durch den Beyfall fe&#x017F;t&#x017F;etzen mußte. Die Bild-<lb/>
hauerey aber i&#x017F;t vor der Malerey voraus gegangen, und hat, als die a&#x0364;ltere<lb/>
Schwe&#x017F;ter, die&#x017F;e, als die ju&#x0364;ngere, gefu&#x0364;hret; ja Plinius i&#x017F;t der Meynung,<lb/>
daß zur Zeit des Trojani&#x017F;chen Krieges die Malerey noch nicht gewe&#x017F;en &#x017F;ey.<lb/>
Der Jupiter des Phidias, und die Juno des Polycletus, die vollkom-<lb/>
men&#x017F;ten Statuen, welche das Alterthum gekannt hat, waren &#x017F;chon, ehe<lb/>
Licht und Schatten in Griechi&#x017F;chen Gema&#x0364;lden er&#x017F;chien. Denn Apollo-<lb/>
dorus <note place="foot" n="1)">Er wurde der Schatten-Maler genannt. (&#x03C3;&#x03BA;&#x03B9;&#x03B1;&#x03B3;&#x03C1;&#x03AC;&#x03C6;&#x03BF;&#x03C2;. <hi rendition="#aq">He&#x017F;ych.</hi> &#x03C3;&#x03BA;&#x03B9;&#x03AC;) Man &#x017F;ieht al&#x017F;o<lb/>
die Ur&#x017F;ache &#x017F;olcher Benennung, und He&#x017F;ychius, welcher &#x03C3;&#x03C0;&#x03B9;&#x03CC;&#x03B3;&#x03C1;&#x03B1;&#x03C6;&#x03BF;&#x03C2; fu&#x0364;r &#x03C3;&#x03BA;&#x03B7;&#x03BD;&#x03CC;&#x03B3;&#x03C1;&#x03B1;&#x03C6;&#x03BF;&#x03C2;,<lb/>
d. i. der Zelt-Maler, genommen, i&#x017F;t zu verbe&#x017F;&#x017F;ern.</note>, und &#x017F;onderlich nach ihm Zeuxis, der Mei&#x017F;ter und der Schu&#x0364;ler,<lb/>
welche in der Neunzig&#x017F;ten Olympias beru&#x0364;hmt waren, &#x017F;ind die er&#x017F;ten <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">Quintil. In&#x017F;t. Orat. L. 12. c.</hi> 10.</note>,<lb/>
welche hierinn &#x017F;ich zeigeten; da man &#x017F;ich die Gema&#x0364;lde vor ihrer Zeit als<lb/>
neben einander ge&#x017F;etzte Statuen vorzu&#x017F;tellen hat, die außer der Handlung,<lb/>
in welcher &#x017F;ie gegen einander &#x017F;tanden, als einzelne Figuren kein ganzes zu<lb/>
machen &#x017F;chienen, nach eben der Art, wie die Gema&#x0364;lde auf den &#x017F;ogenannten<lb/>
Hetruri&#x017F;chen Gefa&#x0364;ßen &#x017F;ind. Euphranor, welcher mit dem Praxiteles zu<lb/>
gleicher Zeit, und al&#x017F;o &#x017F;pa&#x0364;ter noch, als Zeuxis, lebete, hat, wie Plinius<lb/>
&#x017F;agt, die Symmetrie in die Malerey gebracht.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0188] I Theil. Viertes Capitel. Idealiſches, als jene, weil ſie keine Nachahmung von etwas wirklichem hat ſeyn koͤnnen, und, nach der Nothwendigkeit, auf allgemeine Regeln und Geſetze der Verhaͤltniſſe gegruͤndet worden. Jene beyden Kuͤnſte, welche mit der bloßen Nachahmung ihren Anfang genommen haben, fanden alle noͤthige Regeln am Menſchen beſtimmt, da die Baukunſt die ihrige durch viele Schluͤſſe finden, und durch den Beyfall feſtſetzen mußte. Die Bild- hauerey aber iſt vor der Malerey voraus gegangen, und hat, als die aͤltere Schweſter, dieſe, als die juͤngere, gefuͤhret; ja Plinius iſt der Meynung, daß zur Zeit des Trojaniſchen Krieges die Malerey noch nicht geweſen ſey. Der Jupiter des Phidias, und die Juno des Polycletus, die vollkom- menſten Statuen, welche das Alterthum gekannt hat, waren ſchon, ehe Licht und Schatten in Griechiſchen Gemaͤlden erſchien. Denn Apollo- dorus 1), und ſonderlich nach ihm Zeuxis, der Meiſter und der Schuͤler, welche in der Neunzigſten Olympias beruͤhmt waren, ſind die erſten 2), welche hierinn ſich zeigeten; da man ſich die Gemaͤlde vor ihrer Zeit als neben einander geſetzte Statuen vorzuſtellen hat, die außer der Handlung, in welcher ſie gegen einander ſtanden, als einzelne Figuren kein ganzes zu machen ſchienen, nach eben der Art, wie die Gemaͤlde auf den ſogenannten Hetruriſchen Gefaͤßen ſind. Euphranor, welcher mit dem Praxiteles zu gleicher Zeit, und alſo ſpaͤter noch, als Zeuxis, lebete, hat, wie Plinius ſagt, die Symmetrie in die Malerey gebracht. Der 1) Er wurde der Schatten-Maler genannt. (σκιαγράφος. Heſych. σκιά) Man ſieht alſo die Urſache ſolcher Benennung, und Heſychius, welcher σπιόγραφος fuͤr σκηνόγραφος, d. i. der Zelt-Maler, genommen, iſt zu verbeſſern. 2) Quintil. Inſt. Orat. L. 12. c. 10.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/188
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/188>, abgerufen am 04.12.2024.