Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

Von dem Ursprunge und Anfange der Kunst.
von der menschlichen Gestalt nur allein den Kopf gehabt haben, deutet auch
1) die H. Schrift. Viereckigte Steine mit Köpfen, wurden bey den Grie-
chen, wie bekannt ist, Hermä, das ist, 2) große Steine genennet, und
von ihren Künstlern beständig beybehalten 3).

Von diesem ersten Entwurfe und Anlage einer Figur können wir derVII.
Durch Anzei-
ge des Ge-
schlechtes.

anwachsenden Bildung derselben, aus Anzeigen der Scribenten und aus al-
ten Denkmaalen, nachforschen. An diese Steine mit einem Kopfe merkete
man nur auf dem Mittel derselben den Unterschied des Geschlechts an, wel-
ches ein ungeformtes Gesicht im Zweifel ließ. Wenn gesaget wird, daß
Eumarus von Athen 4) den Unterschied des Geschlechts in der Malerey zu
erst gezeiget habe, so ist dieses vermuthlich von der Bildung des Gesichts im
jugendlichen Alter zu verstehen: dieser Künstler hat vor dem Romulus,
und nicht lange nach Wiederherstellung der olympischen Spiele durch den
Iphitus, gelebet.

Endlich fieng Dädalus an, wie die gemeineste Meynung ist, die un-VIII.
Durch Ge-
staltung der
Beine durch
den Dädalus.

terste Hälfte dieser Bildsäulen in Gestalt der Beine von einander zu sondern;
und weil man nicht verstand, aus Stein eine ganze menschliche Figur hervor-
zubringen, so arbeitete dieser Künstler in Holz, und von ihm sollen die ersten
Statuen den Namen Dädali bekommen haben. Von den Werken dieses
Künstlers giebt die Meynung der Bildhauer von Socrates Zeit, welche er
anführet, einigen Begriff; wenn Dädalus, saget er, wieder aufstehen soll-
te, und arbeiten würde, wie die Werke sind, die unter dessen Namen gehen,
würde er, wie die Bildhauer sagen, lächerlich werden.

Die
1) Ps. 135. v. 16.
2) Scylac. Peripl. p. 52. l. 19. Suid. v. Erma. Der Name Hermes, Mercurius, dem der-
gleichen Steine, wie man vorgiebt, zuerst sollen gesetzt worden seyn, würde auch
nach dessen Herleitung beym Plato Cratyl. p. 408. B. jenem nichts angehen.
3) Andrias Pandionos beym Aristoph. Pac. v. 1183. war eine solche Herma, und eine von
zwölf andern zu Athen, an welche die Verzeichnisse der Soldaten aufgehänget
wurden, und kann also keine Säule bedeuten, wie es die Uebersetzer gegeben haben.
4) Plin. l. 35. c. 34. p. 690.

Von dem Urſprunge und Anfange der Kunſt.
von der menſchlichen Geſtalt nur allein den Kopf gehabt haben, deutet auch
1) die H. Schrift. Viereckigte Steine mit Koͤpfen, wurden bey den Grie-
chen, wie bekannt iſt, Hermaͤ, das iſt, 2) große Steine genennet, und
von ihren Kuͤnſtlern beſtaͤndig beybehalten 3).

Von dieſem erſten Entwurfe und Anlage einer Figur koͤnnen wir derVII.
Durch Anzei-
ge des Ge-
ſchlechtes.

anwachſenden Bildung derſelben, aus Anzeigen der Scribenten und aus al-
ten Denkmaalen, nachforſchen. An dieſe Steine mit einem Kopfe merkete
man nur auf dem Mittel derſelben den Unterſchied des Geſchlechts an, wel-
ches ein ungeformtes Geſicht im Zweifel ließ. Wenn geſaget wird, daß
Eumarus von Athen 4) den Unterſchied des Geſchlechts in der Malerey zu
erſt gezeiget habe, ſo iſt dieſes vermuthlich von der Bildung des Geſichts im
jugendlichen Alter zu verſtehen: dieſer Kuͤnſtler hat vor dem Romulus,
und nicht lange nach Wiederherſtellung der olympiſchen Spiele durch den
Iphitus, gelebet.

Endlich fieng Daͤdalus an, wie die gemeineſte Meynung iſt, die un-VIII.
Durch Ge-
ſtaltung der
Beine durch
den Daͤdalus.

terſte Haͤlfte dieſer Bildſaͤulen in Geſtalt der Beine von einander zu ſondern;
und weil man nicht verſtand, aus Stein eine ganze menſchliche Figur hervor-
zubringen, ſo arbeitete dieſer Kuͤnſtler in Holz, und von ihm ſollen die erſten
Statuen den Namen Daͤdali bekommen haben. Von den Werken dieſes
Kuͤnſtlers giebt die Meynung der Bildhauer von Socrates Zeit, welche er
anfuͤhret, einigen Begriff; wenn Daͤdalus, ſaget er, wieder aufſtehen ſoll-
te, und arbeiten wuͤrde, wie die Werke ſind, die unter deſſen Namen gehen,
wuͤrde er, wie die Bildhauer ſagen, laͤcherlich werden.

Die
1) Pſ. 135. v. 16.
2) Scylac. Peripl. p. 52. l. 19. Suid. v. Ἕρμα. Der Name Hermes, Mercurius, dem der-
gleichen Steine, wie man vorgiebt, zuerſt ſollen geſetzt worden ſeyn, wuͤrde auch
nach deſſen Herleitung beym Plato Cratyl. p. 408. B. jenem nichts angehen.
3) Ἀνδριὰς Πανδίονος beym Ariſtoph. Pac. v. 1183. war eine ſolche Herma, und eine von
zwoͤlf andern zu Athen, an welche die Verzeichniſſe der Soldaten aufgehaͤnget
wurden, und kann alſo keine Saͤule bedeuten, wie es die Ueberſetzer gegeben haben.
4) Plin. l. 35. c. 34. p. 690.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0057" n="7"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von dem Ur&#x017F;prunge und Anfange der Kun&#x017F;t.</hi></fw><lb/>
von der men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;talt nur allein den Kopf gehabt haben, deutet auch<lb/><note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">P&#x017F;. 135. v.</hi> 16.</note> die H. Schrift. Viereckigte Steine mit Ko&#x0364;pfen, wurden bey den Grie-<lb/>
chen, wie bekannt i&#x017F;t, <hi rendition="#fr">Herma&#x0364;</hi>, das i&#x017F;t, <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">Scylac. Peripl. p. 52. l. 19. Suid. v.</hi> &#x1F1D;&#x03C1;&#x03BC;&#x03B1;. Der Name Hermes, Mercurius, dem der-<lb/>
gleichen Steine, wie man vorgiebt, zuer&#x017F;t &#x017F;ollen ge&#x017F;etzt worden &#x017F;eyn, wu&#x0364;rde auch<lb/>
nach de&#x017F;&#x017F;en Herleitung beym Plato <hi rendition="#aq">Cratyl. p. 408. B.</hi> jenem nichts angehen.</note> große Steine genennet, und<lb/>
von ihren Ku&#x0364;n&#x017F;tlern be&#x017F;ta&#x0364;ndig beybehalten <note place="foot" n="3)">&#x1F08;&#x03BD;&#x03B4;&#x03C1;&#x03B9;&#x1F70;&#x03C2; &#x03A0;&#x03B1;&#x03BD;&#x03B4;&#x03AF;&#x03BF;&#x03BD;&#x03BF;&#x03C2; beym Ari&#x017F;toph. <hi rendition="#aq">Pac. v.</hi> 1183. war eine &#x017F;olche Herma, und eine von<lb/>
zwo&#x0364;lf andern zu Athen, an welche die Verzeichni&#x017F;&#x017F;e der Soldaten aufgeha&#x0364;nget<lb/>
wurden, und kann al&#x017F;o keine Sa&#x0364;ule bedeuten, wie es die Ueber&#x017F;etzer gegeben haben.</note>.</p><lb/>
            <p>Von die&#x017F;em er&#x017F;ten Entwurfe und Anlage einer Figur ko&#x0364;nnen wir der<note place="right"><hi rendition="#aq">VII.</hi><lb/>
Durch Anzei-<lb/>
ge des Ge-<lb/>
&#x017F;chlechtes.</note><lb/>
anwach&#x017F;enden Bildung der&#x017F;elben, aus Anzeigen der Scribenten und aus al-<lb/>
ten Denkmaalen, nachfor&#x017F;chen. An die&#x017F;e Steine mit einem Kopfe merkete<lb/>
man nur auf dem Mittel der&#x017F;elben den Unter&#x017F;chied des Ge&#x017F;chlechts an, wel-<lb/>
ches ein ungeformtes Ge&#x017F;icht im Zweifel ließ. Wenn ge&#x017F;aget wird, daß<lb/>
Eumarus von Athen <note place="foot" n="4)"><hi rendition="#aq">Plin. l. 35. c. 34. p.</hi> 690.</note> den Unter&#x017F;chied des Ge&#x017F;chlechts in der Malerey zu<lb/>
er&#x017F;t gezeiget habe, &#x017F;o i&#x017F;t die&#x017F;es vermuthlich von der Bildung des Ge&#x017F;ichts im<lb/>
jugendlichen Alter zu ver&#x017F;tehen: die&#x017F;er Ku&#x0364;n&#x017F;tler hat vor dem Romulus,<lb/>
und nicht lange nach Wiederher&#x017F;tellung der olympi&#x017F;chen Spiele durch den<lb/>
Iphitus, gelebet.</p><lb/>
            <p>Endlich fieng Da&#x0364;dalus an, wie die gemeine&#x017F;te Meynung i&#x017F;t, die un-<note place="right"><hi rendition="#aq">VIII.</hi><lb/>
Durch Ge-<lb/>
&#x017F;taltung der<lb/>
Beine durch<lb/>
den Da&#x0364;dalus.</note><lb/>
ter&#x017F;te Ha&#x0364;lfte die&#x017F;er Bild&#x017F;a&#x0364;ulen in Ge&#x017F;talt der Beine von einander zu &#x017F;ondern;<lb/>
und weil man nicht ver&#x017F;tand, aus Stein eine ganze men&#x017F;chliche Figur hervor-<lb/>
zubringen, &#x017F;o arbeitete die&#x017F;er Ku&#x0364;n&#x017F;tler in Holz, und von ihm &#x017F;ollen die er&#x017F;ten<lb/>
Statuen den Namen <hi rendition="#fr">Da&#x0364;dali</hi> bekommen haben. Von den Werken die&#x017F;es<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;tlers giebt die Meynung der Bildhauer von Socrates Zeit, welche er<lb/>
anfu&#x0364;hret, einigen Begriff; wenn Da&#x0364;dalus, &#x017F;aget er, wieder auf&#x017F;tehen &#x017F;oll-<lb/>
te, und arbeiten wu&#x0364;rde, wie die Werke &#x017F;ind, die unter de&#x017F;&#x017F;en Namen gehen,<lb/>
wu&#x0364;rde er, wie die Bildhauer &#x017F;agen, la&#x0364;cherlich werden.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0057] Von dem Urſprunge und Anfange der Kunſt. von der menſchlichen Geſtalt nur allein den Kopf gehabt haben, deutet auch 1) die H. Schrift. Viereckigte Steine mit Koͤpfen, wurden bey den Grie- chen, wie bekannt iſt, Hermaͤ, das iſt, 2) große Steine genennet, und von ihren Kuͤnſtlern beſtaͤndig beybehalten 3). Von dieſem erſten Entwurfe und Anlage einer Figur koͤnnen wir der anwachſenden Bildung derſelben, aus Anzeigen der Scribenten und aus al- ten Denkmaalen, nachforſchen. An dieſe Steine mit einem Kopfe merkete man nur auf dem Mittel derſelben den Unterſchied des Geſchlechts an, wel- ches ein ungeformtes Geſicht im Zweifel ließ. Wenn geſaget wird, daß Eumarus von Athen 4) den Unterſchied des Geſchlechts in der Malerey zu erſt gezeiget habe, ſo iſt dieſes vermuthlich von der Bildung des Geſichts im jugendlichen Alter zu verſtehen: dieſer Kuͤnſtler hat vor dem Romulus, und nicht lange nach Wiederherſtellung der olympiſchen Spiele durch den Iphitus, gelebet. VII. Durch Anzei- ge des Ge- ſchlechtes. Endlich fieng Daͤdalus an, wie die gemeineſte Meynung iſt, die un- terſte Haͤlfte dieſer Bildſaͤulen in Geſtalt der Beine von einander zu ſondern; und weil man nicht verſtand, aus Stein eine ganze menſchliche Figur hervor- zubringen, ſo arbeitete dieſer Kuͤnſtler in Holz, und von ihm ſollen die erſten Statuen den Namen Daͤdali bekommen haben. Von den Werken dieſes Kuͤnſtlers giebt die Meynung der Bildhauer von Socrates Zeit, welche er anfuͤhret, einigen Begriff; wenn Daͤdalus, ſaget er, wieder aufſtehen ſoll- te, und arbeiten wuͤrde, wie die Werke ſind, die unter deſſen Namen gehen, wuͤrde er, wie die Bildhauer ſagen, laͤcherlich werden. VIII. Durch Ge- ſtaltung der Beine durch den Daͤdalus. Die 1) Pſ. 135. v. 16. 2) Scylac. Peripl. p. 52. l. 19. Suid. v. Ἕρμα. Der Name Hermes, Mercurius, dem der- gleichen Steine, wie man vorgiebt, zuerſt ſollen geſetzt worden ſeyn, wuͤrde auch nach deſſen Herleitung beym Plato Cratyl. p. 408. B. jenem nichts angehen. 3) Ἀνδριὰς Πανδίονος beym Ariſtoph. Pac. v. 1183. war eine ſolche Herma, und eine von zwoͤlf andern zu Athen, an welche die Verzeichniſſe der Soldaten aufgehaͤnget wurden, und kann alſo keine Saͤule bedeuten, wie es die Ueberſetzer gegeben haben. 4) Plin. l. 35. c. 34. p. 690.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/57
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/57>, abgerufen am 21.11.2024.